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Magische Momente: Frank Busemann und das Olympia-Silber von Atlanta

Auf Wettkämpfe, wie wir sie kennen und lieben, müssen wir aufgrund der Corona-Pandemie zunächst verzichten. Umso mehr lohnt es sich, auf die magischen Momente zurückzublicken, die uns die deutschen Leichtathleten in der Vergangenheit beschert haben. In unserer neuen Reihe nehmen sie uns mit zu den Stunden, die ihr Leben verändert haben. Und die uns auch heute noch Gänsehaut bescheren. Heute: Zehnkämpfer Frank Busemann, der 1996 in Atlanta (USA) völlig überraschend die Olympia-Silbermedaille gewann.
Frank Busemann / Nicolas Walter

Die Highlights vom zweiten Wettkampftag des Zehnkampfes finden Sie in der ZDF-Mediathek.

„Nachdem ich die Ziellinie überquert hatte, kamen die anderen beiden deutschen Zehnkämpfer Dirk Pajonk und Frank Müller auf mich zu und umarmten mich. Die Ärzte trommelten auf mir rum, aber mir war alles vollkommen egal. Ich war so mit mir im Reinen und wollte einfach nur liegenbleiben. Ich hätte noch auf der Laufbahn einschlafen können. Die Strapazen der letzten Stunden waren deutlich zu spüren. Ich hatte es geschafft. Ich hatte die olympische Silbermedaille gewonnen. Doch bis dahin war es ein langer Weg gewesen.

Ich teilte mir im Olympischen Dorf ein Zimmer mit Dirk Pajonk. Wir kannten uns schon, da auch Dirk bei meinem Vater trainiert hatte und wir beide bei Schalke 04 groß geworden waren. Dass wir beide nun zusammen dem Zehnkampf-Olympiateam angehörten, war einfach nur unglaublich. Am Tag vor dem Wettkampf, ungefähr gegen 15 Uhr, packten Dirk und ich unsere Taschen. Die Zimmer im Olympischen Dorf waren allerdings so klein, dass nur einer packen konnte und der andere währenddessen auf dem Bett saß.

Wir waren gut drauf, voller Vorfreude. Irgendwie konzentriert, aber auch gelöst. Übermäßig laut waren wir jedenfalls nicht. Urplötzlich wurden wir von einem lauten Schlag aus unserer konzentrierten Lockerheit gerissen. Mit einem Donnern flog die Tür von Lars Riedel auf, der das Nachbarzimmer bewohnte. Er stürmte auf uns zu und schnauzte uns an, was uns einfallen würde so laut zu sein. Innerhalb von wenigen Augenblicken war unser kleines Zimmer gefüllt mit Personen. Wir erklärten Lars‘ Trainer und der DLV-Spitze, dass wir nicht wussten, dass Lars anwesend war und er um diese Zeit seinen Mittagsschlaf abhalten wollte. Die Nerven lagen blank. Schließlich wollte er am nächsten Tag Olympiasieger werden und wir hielten ihn jetzt vom Schlafen ab. Da Lars wenige Stunden nach diesem Vorfall Olympia-Gold holte, hatte der Vorfall für uns glücklicherweise keine Folgen.

Am Abend gingen wir recht früh zu Bett. Es machte sich bei mir die gewohnte Schlaflosigkeit breit, die ich bereits von anderen Wettkämpfen kannte. Ich spürte Freude, Angst, kindliche Neugier und Aufregung. Am nächsten Morgen standen wir auf und machten uns auf den Weg in die Mensa. Dort machte ich etwas, was ich zuvor noch nie in meinem Leben gemacht hatte, aber für den weiteren Verlauf meiner Karriere beibehielt: Ich frühstückte Nudeln.

Wir fuhren mit dem Bus ins Stadion und machten uns dort schließlich warm. Im Call Room, in dem sich alle Athleten versammelt hatten, kam es dann zu einer Situation, die mir bis heute im Gedächtnis geblieben ist. Dan O´Brien, der zu dieser Zeit beste Zehnkämpfer der Welt, rief in die Runde: „Who is Busman?“ Ich reagierte nicht, da ich dachte, er suchte den Busfahrer. Der Kanadier Mike Smith klärte auf und zeigte auf mich. O´Brien begrüßte mich mit einem Handschlag und erzählte, dass er von meinen Hürdenrekorden gelesen hatte und mir für den nun bevorstehenden Wettkampf viel Erfolg wünsche. Ich fühlte mich total geschmeichelt.

Tag 1

Wenn ich an den Einlauf ins Stadion denke, kribbelt es noch heute. Ich hatte das erreicht, was ich schon immer erreichen wollte. Ich durfte an den Olympischen Spielen teilnehmen. Dieses Gefühl, vor so einer Kulisse einlaufen zu dürfen, war der Wahnsinn. Dann ging es los mit der ersten Disziplin. 100 Meter. Ich auf Bahn sieben. Dan O´Brien auf Bahn acht. Ich hatte keine Angst. Ganz im Gegenteil. Ich war motiviert bis unter die Haarspitzen, denn ich wusste, was ich draufhatte. Der Startschuss ertönte und ich war sofort vor O´Brien. Nach knapp 60 Metern zog er allerdings an mir vorbei und ich musste mir eingestehen, dass ich gegen diesen Overdrive keine Chance hatte. Aber eine gute Zeit war noch immer möglich. Am Ende zeigte die Anzeigentafel 10,60 Sekunden – persönliche Bestleistung. Was ein geiler Einstieg!

Es ging weiter mit dem Weitsprung. Meine Bestleistung stand bei 7,80 Metern, aber ich war erst kurz zuvor zum Zehnkampf gekommen, sodass diese Weite lange noch nicht ausgereizt war. Ich nahm Anlauf, sprang ab und landete in der Grube. Als ich die Anzeigentafel erblickte, leuchteten 8,07 Meter auf. Aufgrund meiner Erwartungen gar nicht unbedingt überraschend. Aber als es vollbracht war, war es dennoch schwer zu fassen. Als ich meine Schuhe auszog, spürte ich plötzlich einen stechenden Schmerz im linken Fuß. Ich hatte ihn mir dermaßen verstaucht, dass ich nicht mehr richtig auftreten konnte. Es fühlte sich an, als wenn ein Messer darin stecken würde. Durch das ganze Adrenalin hatte ich das zuvor aber überhaupt nicht gemerkt.

Aber es musste weitergehen. Ich war im Wettkampf meines Lebens, und durch so eine Scheiße wollte ich nicht rausfliegen. Beim Kugelstoßen wurde der lädierte Fuß zum Glück relativ wenig belastet. Ich stieß 13,60 Meter, was für meine Verhältnisse okay war, aber nicht wirklich gut. Dan O´Brien, der zu diesem Zeitpunkt 100 Punkte hinter mir lag, kam plötzlich auf mich zu und sagte: „Schau mal Frank, ich zeige dir mal eben, wie das geht. Du hast so gut angefangen und machst dir das jetzt durch solche leichten Fehler kaputt.“ Das fand ich sehr beeindruckend.

Beim Hochsprung schmerzte mein lädierter Fuß wieder. Ich zog vor jedem Sprung meinen Tape-Verband so fest an, dass der Fuß innerhalb einer halben Minute einschlief, blau wurde und ich nichts mehr spürte. Das funktionierte gut. 2,04 Meter. Bestleistung eingestellt. Fantastisch. Auch die abschließenden 400 Meter liefen sehr gut. Im Anschluss daran kam mein Vater auf mich zu und teilte mir mit, dass ich Zweiter in der Gesamtwertung sei. Doch das wollte und konnte ich ihm nicht glauben, denn die Medaille war für mich zu diesem Zeitpunkt gedanklich noch sehr weit weg.

Tag 2

Am nächsten Morgen machte ich die Augen auf und fühlte mich alles andere als gut. Ich hatte Gliederschmerzen und Fieber, mein Körper war fix und fertig. Total aufgelöst schleppte ich mich aus dem Bett zur medizinischen Abteilung und sagte voller Panik: „Ich habe die Grippe.“ Meine Physiotherapeuten schauten mich vollkommen entspannt an und entgegneten: „Dein wievielter Zehnkampf ist das? Dein fünfter? Alles klar. Mach mal weiter. Du duschst jetzt erst mal, ziehst dir was Vernünftiges an, dann fahren wir ins Stadion und dann schauen wir mal weiter.“ Im Stadion angekommen lief ich mich zunächst ein. Es tat alles ziemlich weh, aber ich konnte immerhin halbwegs laufen. Ich machte Gymnastik, Koordinationsübungen, schließlich einen Steigerungslauf. Da bemerkte ich, dass die Energie tatsächlich in meinen Körper zurückgekehrt war.

Vor dem Hürdensprint begann es zu regnen. Mein erster Gedanke war, dass sich die anderen jetzt ins Hemd machen werden. Ich dagegen liebte den Regen. Ich liebte die Sonne. Mir gefiel jedes Wetter. Ich war so heiß, so fokussiert. Ich habe nicht einmal darüber nachgedacht, dass ich jetzt auf die Schnauze fliegen könnte. Nein, ich war davon überzeugt, dass ich das Ding jetzt herunterbrettern werde. Ich stand im Startblock und wartete auf den Schuss. Plötzlich zuckte ich, ging mit dem Hintern nach oben und bemerkte, dass das viel zu früh war. Schnell ging ich wieder in die Ausgangsstellung zurück. Genau in diesem Moment erfolgte die Freigabe des Rennens, und ich verlor durch diese verfrühte Reaktion wertvolle Zeit. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen kam ich nach schnellen 13,47 Sekunden ins Ziel. Neuer Olympischer Rekord und Weltbestleistung in einem Zehnkampf! Mein Vater sagte mir danach, dass ich durch den Fehler beim Start vermutlich einen so starken Adrenalinkick bekommen habe, dass ich die verlorengegangene Zeit während des Rennens wieder herausgeholt habe. Im Grunde ist das so, als wäre ein Löwe hinter dir her. Der Schreck setzt autonome Reserven frei.

Beim Diskuswerfen war ich frei von Angst und erreichte bereits mit dem ersten Versuch 45,04 Meter. Im Stabhochsprung flog Tomáš Dvořák, einer meiner größten Konkurrenten um eine olympische Medaille, bei 4,80 Meter raus. Ich dagegen schaffte die Höhe. Das war der Punkt im Wettbewerb, an dem ich mir plötzlich ernsthafte Hoffnungen auf eine Medaille machte: „Ich kann das tatsächlich erreichen. Jetzt liegt es nur noch an mir. Ich kann das Ding eintüten." Diese Gedanken waren Gift für mich. Ich verlor vollkommen den Faden und scheiterte an der nächsten Höhe. Dvořák war schuld.

Beim Speerwerfen lief es dann glücklicherweise ziemlich gut. Der erste Versuch landete sofort bei 66,86 Metern. Wieder Bestleistung. Bis zum 1.500 Meter-Lauf dauerte es dann eine gefühlte Ewigkeit. Ich wusste, dass ich mich jetzt gleich zerstören muss. Ich wollte raus auf die Bahn und das endlich hinter mich bringen. Gleichzeitig hatte ich die Hosen voll vor den Schmerzen, die da gleich kommen sollten. Als das Rennen losging, hatte ich verschiedene Gedanken im Kopf: „Konzentriert bleiben, Tempo finden, sich nicht in irgendwelche Rangeleien verwickeln lassen, auf keinen Fall auf die Innenkante der Bahn treten und ja nicht stolpern." Ich preschte nach vorne. Da mein Vater wusste, dass ich keine 4:10 Minuten laufen konnte, bekam er auf der Tribüne einen ordentlichen Schreck. Erst durch den Blick auf die erste Zwischenzeit wurde ihm klar, dass alles gut war. Denn die anderen waren verhältnismäßig langsam unterwegs.

Ich hatte meine direkten Konkurrenten um eine Medaille, Tomáš Dvořák, Eduard Hämäläinen und Steve Fritz ständig im Blick. Ich wusste, wenn keiner von hinten kommt, dann sieht es sehr gut aus. Ich teilte mir das Rennen gleichmäßig ein und entschied mich irgendwann dazu, zum Endspurt anzusetzen. Das gelang perfekt. Ich glaube nicht, dass ich auch nur drei Zehntel schneller hätte laufen können. Direkt hinter Tomáš Dvořák kam ich als Zweiter ins Ziel. Es war vollbracht. Das Gefühl bei der Überquerung der Ziellinie war unbeschreiblich. Genau deswegen machte ich Zehnkampf. Nach zwei Tagen harter Arbeit kommt man ins Ziel und hat endlich die Gewissheit, es geschafft zu haben.

Nach 1.502 Metern wachte ich auf einmal auf. Bis dahin hatte ich nur daran gedacht zu kämpfen und alles zu geben. Nun versuchte ich mich an der Tatsache zu erfreuen, dass ich soeben Olympia-Silber gewonnen hatte. Aber das ging nicht. Meine aufrichtigere Freude war die, dass ich mich jetzt nicht mehr belasten musste und endlich alles vorbei war. „Scheiße, du kannst jetzt schlafen. Es ist einfach nur vorbei", dachte ich mir. Ich wollte nur liegenbleiben und hätte noch auf der Bahn einschlafen können. Das wäre so schön gewesen.

Mein Vater kam zu mir, wir lagen uns heulend in den Armen. „Junge, was hast du uns da eingebrockt“, seufzte er mir zu. Irgendwann ging es zur Siegerehrung. Das Stadion hatte sich geleert, doch viele einzelne deutsche Grüppchen waren noch übriggeblieben. Ich realisierte, dass die Leute für mich da waren, mich sehen wollten. Ein sehr schönes Gefühl.

Im Anschluss an die Siegerehrung fuhren wir zurück ins Olympische Dorf. Im Vorfeld der Spiele hatten wir ausgemacht, dass wir – sobald wir mit dem Zehnkampf fertig sind – so viele BigMacs essen würden, wie wir können. Im Endeffekt aß jeder von uns lediglich einen einzigen Burger. Wir waren körperlich und mental einfach zu fertig. An Party oder Ähnliches war nicht mehr zu denken.

An die Nacht nach dem Wettkampf kann ich mich gar nicht mehr wirklich erinnern. Umso mehr aber an den darauffolgenden Morgen. Ich wurde wach, machte die Augen auf und fühlte keinen Schmerz mehr. Ich sah nur Weiß. Ich machte die Augen zu, ich machte die Augen auf. Es blieb Weiß. Ich war für einen Moment komplett schmerzfrei. Das war ein Zustand des puren Glücks. Es fühlte sich an wie ein Traum. Aber es war kein Traum."

Die Highlights vom zweiten Wettkampftag des Zehnkampfes finden Sie in der ZDF-Mediathek.

 

#TrueAthletes@Home | Motivation
Im entscheidenden Moment überzeugen. Frank Busemann schaffte dies 1996 bei den Olympischen Spielen in Atlanta und ließ sich dabei von Nichts und Niemandem aus der Ruhe bringen. Nach zwei kraftraubenden Tagen gewann er die Silbermedaille. Im Rahmen unserer Initiative #TrueAthletes@Home wird der Ex-Zehnkämpfer in den kommenden Tagen in Videos zeigen, wie auch Sie im Sport oder in anderen herausfordernden Zeiten die Motivation und den Fokus bewahren. Darüber hinaus finden Sie auf leichtathletik.de zahlreiche Tipps unserer DLV-Experten sowie Best-Practise-Beispiele unserer Top-Athleten. Klicken Sie rein!

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