| Neuroathletik-Training

Wenn Schielen zum Training gehört: Warum Gina Lückenkemper auf Neuroathletik-Training setzt

Gina Lückenkemper praktiziert es täglich. Christina Schwanitz hat es schon getan und auch Fußball-Profis wie Serge Gnabry und Per Mertesacker schwören darauf: Neuroathletik-Training ist einer ihrer Schlüssel zum Erfolg. Was genau dahinter steckt, wo es helfen kann und warum ein Start damit gerade in der aktuellen Zeit so sinnvoll sein kann, das erzählen Sprinterin Gina Lückenkemper und Neuroathletik-Trainer Lars Lienhard.
Alexandra Dersch

Normalerweise schielt Gina Lückenkemper nicht. Im Gegenteil. Ihr Blick ist klar, geradeaus, fokussiert. Doch die 23-Jährige hat für sich die Erfahrung gemacht: Um noch erfolgreicher zu sein, lohnt sich oft ein etwas verdrehter Blick. Und damit auch das Beschreiten von Wegen, die andere erstmal in die Kategorie „seltsam“ einordnen.

Seltsam. So schauen die Leute, wenn Gina Lückenkemper erzählt, dass sie vor dem Wettkampf an einer Batterie leckt. Seltsam. So schauen sie, wenn die Sprinterin des SCC Berlin schielt, die Zunge verdreht und dabei womöglich noch Verrenkungen mit ihrem Kopf veranstaltet. Doch dieses „seltsam“ war einer der Bausteine, die sie zur aktuell schnellsten Frau Deutschlands machten.

Der Mann, der hinter diesen Ideen steckt, ist der Bonner Sportwissenschaftler Lars Lienhard, selbst ehemaliger Leichtathlet. Seit der Olympia-Saison 2016 arbeitet Lars Lienhard als Neuroathletiktrainer eng mit unterschiedlichen Leichtathleten zusammen, nachdem er bereits bei der Fußball-WM 2014 Teil des deutschen Betreuerteams war. Wir erinnern uns: 2014 – da wurden die deutschen Fußballer Weltmeister.

Die Schaltzentrale optimieren

Neuroathletik – „Im Kern geht es darum, das Gehirn und zentrale Nervensystem bestmöglich auf die Anforderungen des Wettkampfes vorzubereiten“, sagt Lars Lienhard. „Jede Bewegung wird vom Gehirn gesteuert. Ein Muskel kontrahiert ja nicht von sich aus, sondern er bekommt einen Befehl zu kontrahieren. Wie dieser Befehl konkret aussieht, bestimmt das Gehirn. Deshalb können wir unter Einbeziehung des Gehirns und dem zentralen Nervensystem eben auch Einfluss auf die Feinheiten einer Bewegung, einer Technikausführung oder eben auch auf Schmerzregulierung nehmen“, sagt er.

Es ist der Gedanke, den Körper als Einheit zu sehen – mit dem Gehirn und Nervensystem als Schaltzentrale des Ganzen. „Was der Kopf nicht anordnet, kann der Körper nicht ausführen“, sagt Lars Lienhard. So einfach. So einleuchtend. Doch was ist, wenn der Kopf etwas anordnet, was nicht erwünscht ist? Wenn er eine Technik trotz oft jahrelangem Training nicht in der erhofften Ausführung abruft? Wenn er gar Schmerz rückmeldet? 

Keine Zauberei

So war es, als Gina Lückenkemper erstmals auf Lars Lienhard traf. Im Sommer 2016, kurz nach der EM in Amsterdam, kurz vor Olympia in Rio. „Ich hatte die ganze Saison Probleme mit meinem Oberschenkel“, erinnert sich Gina Lückenkemper. Keine gravierenden, ansonsten hätte sie kaum zwei Bronzemedaillen bei der EM gewinnen können. Aber eben doch störend. Kein Arzt, kein Physio konnte vorher helfen. „Ich habe nichts zu verlieren“, sagte sich Gina Lückenkemper damals und sprach Lars Lienhard im Olympia-Trainingslager in Kienbaum an. Keine 40 Minuten später war der Schmerz verschwunden.

„Klingt wie Zauberei. Ist es aber nicht“, sagt Gina Lückenkemper heute. Damals war sie aber auch mehr als überrascht und erfuhr aus ihrem Umfeld hauptsächlich irritierte Reaktionen, so als habe sie wohl einen „Wunderheiler“ getroffen. Heute kann die Sprinterin, die Wirtschaftspsychologie studiert und dadurch ein gewisses Vorwissen in dieser Materie mitbringt, sich die Wirkung erklären: „Damals hat sich einer der Nerven, die den Oberschenkel versorgen, unzureichend bewegt und so kaum Rückmeldung ans Gehirn geschickt – dieses hat dann das Signal ‚Schmerz‘ ausgesendet. Das war praktisch wie ein Knick im Gartenschlauch, da fließt dann auch kein Wasser mehr durch und wir merken, da stimmt was nicht. Diesen Knick hat Lars dann unter anderem durch das Drehen meiner Füße gelöst.“

Feilen an den Details

Seitdem wurde die Neuroathletik mehr und mehr Teil ihres Alltags. Anfangs besuchte Lars Lienhard die Sprinterin ein bis zwei Tage am Stück und absolvierte Trainingseinheiten gemeinsam mit ihr. „Danach war ich so erschöpft, das ich den Rest des Tages geschlafen habe“, erinnert sich Gina Lückenkemper. Auch Kopfarbeit ist ermüdend. Inzwischen sind die beiden ein eingespieltes Team, das Probleme auch via Sprachnachrichten oder Videos besprechen und lösen kann. „Ich habe durch das Training eine ganz neue Möglichkeit gefunden, um an den Details zu arbeiten. Das hat mich in meiner Entwicklung gefördert.“ Ihre Entwicklung hin zu einer Sub-11-Sprinterin, aber auch im Hinblick auf die Verletzungsprävention. Dass Gina Lückenkemper seit 2016 keine größeren Verletzungen mehr hatte, sieht die EM-Zweite 2018 auch in Verbindung mit ihrem Neuroathletik-Training.

Doch nicht nur bei Problemen greift Gina Lückenkemper auf das Wissen von Lars Lienhard zurück. „Neuroathletik ist fester Bestandteil meines täglichen Lebens“, sagt sie. Eine kleine Übung in jedem Warmup, eine kleine Übung in der Freizeit. „Den Kopf oder die Zunge drehen, das schaffe ich auch Zuhause mal eben“, sagt sie.

Regelmäßigkeit bringt besten Erfolg

Und genau das ist es, was Lars Lienhard bei all seinen erfolgreichen Athleten beobachtet. „Wenn die Neuroathletik an sich gar nicht mehr als reiner Trainingsinhalt wahrgenommen wird und einfach wie selbstverständlich in den Alltag einfließt – dann sehe ich tatsächlich die langfristigsten Erfolge bei den Athleten.“ Fußballer wie Serge Gnabry oder auch Per Mertesacker seien da ähnliche Beispiele wie Gina Lückenkemper. „Bei Kraftübungen stellt ja auch keiner in Frage, dass ich das regelmäßig machen muss, um den gewünschten Effekt zu erzielen“, sagt Lars Lienhard. So sei das auch mit Neuroathletiktraining.

Dennoch – Lars Lienhard weiß aus seiner langjährigen Erfahrung, dass seine Übungen an sich erstmal ungewohnt erscheinen. „Zu schielen und dabei die Zunge zu verdrehen, das ist nicht sexy“, sagt er. Aber die Athleten merkten schnell die Erfolge, siehe etwa Gina Lückenkemper. „Ich hatte schon häufiger Situationen, in denen ich mich erst gefragt habe, ob Lars mich jetzt veräppeln will. Etwa als er mit der Batterie ankam und meinte, ich sollte mir damit meine Zunge schocken.“ Aber dann habe Lars Lienhard ihr erklärt, was er damit bezweckt. Das Ziel hinter dem Einsatz der Neun-Volt-Batterie: Sie soll bestimmte Hirnregionen aktivieren, um so den Lernprozess im Training ein wenig zu beschleunigen.

Neue Muster etablieren

„Über die Zunge lassen sich im Gehirn die Bereiche ansprechen, die für die Bewegung wichtig sind“, erklärt Lars Lienhard. Der Hauptgrund, warum sich Übungen mit der Zunge immer wieder in seinem Trainings wiederfinden. Dabei sei das Training von Athlet zu Athlet unterschiedlich. „Jeder Athlet kommt mit anderen Erfahrungen zu mir. Entsprechend individuell ist sein Gehirn geschaltet.“ Daher erstelle er zu Beginn des Trainings ein neuronales Profil des Athleten, um daran angelehnt seine Arbeit auszurichten.

In den häufigsten Fällen kommen Athleten mit Schmerzen zu ihm, aber auch, wenn sie in Technikfragen nicht weiterkommen. „Mit der Neuroathletik können wir ins Detail gehen und rausarbeiten, warum ein Athlet etwa eine gewisse Körpervorlage nicht halten kann, können an den ersten Schritten aus dem Block arbeiten, an den Attacken über die Hürden.“ Feinheiten, die sich disziplinübergreifend fortsetzen lassen. Und diese Feinheiten sind es, die oft den Unterschied ausmachen, denn Sätze wie „entweder ein Athlet hat es, oder eben nicht“, die gibt es in der Welt von Lars Lienhard nicht: „Wir können alles steuern, also lässt sich auch alles optimieren.“

Daher sei gerade die aktuelle Phase, sprich ein Jahr ohne internationale Höhepunkte, geeignet, um neue Trainingsimpulse wie die des Neuroathletik-Trainings auszuprobieren. „Oft hat der Athlet in der Saison keine Zeit, um etwas umzustrukturieren“, sagt Lars Lienhard. Durch das neuronale Training finden im Gehirn Anpassungen statt, neue neuronale Verknüpfungen entstehen und neue Bewegungsmuster bilden sich. Diese müssen sich oft erst setzen. Um dann nach einem verdrehten Blick auch wieder fokussiert geradeaus blicken zu können. Ähnlich wie Gina Lückenkemper.
 

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Nach den wochenlang eingeschränkten Trainingsmöglichkeiten aufgrund geschlossener Sportstätten kehren die Leichtathleten jetzt nach und nach auf Sportplätze, Laufbahnen und in Krafträume zurück. Sie trainieren für eine Late Season 2020 und langfristig für die nächsten internationalen Top-Events. Auf leichtathletik.de begleiten wir die DLV-Athleten dabei! In den kommenden Tagen zeigen wir, wie sie die aktuelle Zeit bestmöglich für sich nutzen – und geben Anregungen für neue Trainingsinhalte und Trainingsmittel!
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