| Interview

Johannes Vetter: „Weltrekord kribbelt in den Fingern"

Während im Jahr der Pandemie viele Topsportler sich mehr schlecht als recht durchschlugen, sorgte Speerwerfer Johannes Vetter mit dem Superwurf von 97,76 Meter für Furore. 72 Zentimeter vom Weltrekord entfernt. Im nächsten Jahr hat er nun ein großes Ziel: Olympia-Gold!
dpa/nw

Johannes Vetter (LG Offenburg) hat nach seinem großen Wurf Anfang September auf 97,76 Meter im nächsten Jahr viel vor. „Die obere Priorität ist, gesund zu bleiben und Olympia-Gold anzugreifen", sagt der 27 Jahre alte Weltmeister aus dem Jahr 2017 im Interview. Auch das Übertreffen des Weltrekords des Tschechen Jan Zelezny (98,48 m) „kribbelt" ihn in den Fingern.

Johannes Vetter, Sie sind ausgerechnet in der Corona-Krise über sich hinaus gewachsen und haben am 6. September mit 97,76 Meter den Weltrekord des Tschechen Jan Zelezny um 72 Zentimeter verfehlt. Warum gerade gelang in Zeiten der Pandemie so ein großer Wurf?

Johannes Vetter:

Natürlich war es ein sehr außergewöhnliches Jahr. Trotz kleiner Einschränkungen konnte ich zum Großteil recht gut trainieren und Wettkämpfe bestreiten. Durch der Verschiebung der Olympischen Spiele in Tokio habe ich mein Durchhaltevermögen und Ehrgeiz nicht verloren. Nach dem Verletzungspech in den vergangen Jahren und einem familiären Schicksalsschlag 2018 hatte ich viele Rückschläge, da war diese Situation leichter für mich anzunehmen. Ich war dankbar, dass ich körperlich und mental wieder in der Lage war, Wettkämpfe zu bestreiten. Deshalb habe ich viel Freude und Spaß am Speerwerfen gehabt. Und dann kam eins und eins zusammen – und ich bin in einen schönen Flow gekommen, wo alles gepasst hat. Ich bin super fit durch die Saison gekommen. Es ist das erste Mal seit mehreren Jahren, dass ich nach der Saison nicht zur Nachbehandlung zum Arzt musste. Das macht Mut für das Olympia-Jahr 2021.

Mit dem Wurf auf 97,76 Meter haben Sie eine der herausragenden Leistungen weltweit in der Leichtathletik in diesem Jahr gezeigt. Dafür sind Sie vom Weltverband World Athletics für die Wahl zum Welt-Leichtathleten des Jahres nominiert worden. Beflügelt die herausragende Leistung und die Nominierung?

Johannes Vetter:

Ich gehe damit bescheiden um. Es sind ja einige Weltrekorde in diesem Jahr aufgestellt worden. Wenn ich aber von meinem Results Score ausgehe (1355), der Wert die man durch seine persönliche Bestleitung aufstellt, ist er nach dem von Usain Bolt (1356; Jamaika) und Jan Zelezny (1365; Tschechien) der drittbeste Wert, der bisher je auf der Welt überhaupt erreicht wurde. Klar fällt es einem leichter, mit fast 98 Metern im Rücken das Training im Hinblick auf die Tokio-Spiele aufzubauen. Daraus nun aber so ein besonders Ding draus zu machen, möchte ich nicht. Wir werden solide weitertrainieren, ohne dass mir der eine Wurf zu Kopf steigen würde. Da bin ich nicht der Typ dafür. Außerdem ist Speerwerfen wie Surfen, jeder kann Wellenreiten und wer die beste Welle bekommt, der liefert die beste Tagesleistung.

Mit welchen Zielen gehen Sie ins Olympia-Jahr: Gold in Tokio und den Weltrekord übertrumpfen?

Johannes Vetter:

Es gibt mehrere vorstellbare Situationen. Natürlich kribbelt der Weltrekord in den Fingern. Wenn man schon mal so weit geworfen hat und es nur an ein paar Stellen noch nicht ganz optimal gewesen ist, will man das noch ausreizen. Die obere Priorität ist, gesund zu bleiben und Olympia-Gold anzugreifen.

Ist die Pandemie-Zeit für Sie auch Glück im Unglück gewesen. Sie konnten sich besser auf das Training, wenige Wettkämpfe konzentrieren und hatte kaum Sponsoren- oder Medientermine.

Johannes Vetter:

Das ist Fluch und Segen zugleich. Es ist wichtig, die mit der Pandemie verbundenen negativen Dinge zu akzeptieren, aber auch das Positive herauszufiltern und zu nutzen. Für das Mentale ist das wichtig. Wir alle müssen aber auch anerkennen, dass die bereits angesprochenen Garantien im Sport vielerlei nicht mehr vorhanden sind. Im Sport haben sich große Probleme enttarnt. Er wird sich wirtschaftlich nur durch Transformation erholen. Bezüglich meines Trainings konnten wir mehr an der Technik feilen, mussten aber auch lange ohne Wettkämpfe trainieren. Es war schwer eine Balance zwischen Be- und Entlastung zu finden, weil wir es nicht so gewohnt sind. Der Block von zehn Wettkämpfen in sieben Wochen war echt straff und hart. Normalerweise ziehen sich 15 bis 20 Wettkämpfe über vier Monate hin.

Sie sind eine der besten deutschen Athleten in diesem Jahr gewesen, konnten und können den Erfolg aber nur eingeschränkt in Geld ummünzen. Eine Studie zu den finanziellen Folgen der Corona-Krise weist aus: Die Einnahmeverluste der Topathleten werden 2020 und 2021 groß sein. Wie beeinträchtigen diese Existenzsorgen?

Johannes Vetter:

Wenn ich mich persönlich beschweren würde, wäre es klagen auf hohem Niveau. Ich habe in diesem Jahr mit meinen Leistungen eine gute Grundlage gelegt. Viele Athleten hatten keine Wettkämpfe und waren noch eingeschränkter im Training. Sie hatten fast gar keine Chance, sich potenziellen Sponsoren zu präsentieren. Die finanziellen Einbrüche sind auch bei mir groß, weil viele Antrittsgelder und Prämien fehlen. Auch Sponsoren müssen ihre Zuwendungen kürzen. Es liegt nun an mir und meinem Management, wie ich meine sportliche Leistung, meine Philosophie, meine Erfahrungen, Style und Meinung ummünze. Für viele ist das ein hartes Jahr. Es wird auch Sportlerexistenzen kosten.

Momentan läuft der zweite Lockdown. Nach den Lockerungen im Sommer, ist es eine Berg- und Talfahrt auch der Gefühle. Wie mulmig wird Ihnen mit Blick auf Tokio, ob die Spiele stattfinden können oder nicht? Gibt der Impfstoff, der in Sicht zu sein scheint, Hoffnung?

Johannes Vetter:

Wir Leistungssportler können ja weiter trainieren. Ich bin zudem in der glücklichen Lage, im Winter keine Wettkämpfe zu haben. In anderen Sportarten ist das anders. Ich muss nur trainieren und kann mit leichten Einschränkungen so weiter machen. Das riesengroße Fragezeichen ist, wie entwickelt es sich in den nächsten Wochen und Monaten. Darauf habe ich aber keinen Einfluss. Ich bin meines Glückes Schmied und muss darauf hoffen, dass sich die Pandemie peu á peu mit einem Impfstoff erledigt, die Lage sich verbessert und Olympia stattfindet. Ansonsten habe ich es in der eigenen Hand, im Training alles raus zu kitzeln, um 2021 auf hohem Niveau zu performen.

Wäre die Absage der Tokio-Spiele eine Katastrophe für Sie?

Johannes Vetter:

Für mich persönlich wäre es extrem bitter, weil ich mir einige Chancen bei den Sommerspielen ausrechne.

Olympische Spiele ohne Zuschauer: Eine Option?

Johannes Vetter:

Ich bin mir ziemlich sicher, dass alles getan wird, die Olympischen Spiele auszurichten. Ob mit oder weniger Zuschauer? Zum Schluss sind es Olympische Spiele. Wir hatten Deutsche Meisterschaften ohne Zuschauer. Olympische Spiele werden immer Olympische Spiele bleiben. Für viele Sportlerexistenzen wäre es sehr wichtig, wenn die Spiele stattfinden. Viele von uns Sportler, die bei Olympia sein werden – so schön es mit Zuschauern wäre – haben auch die Mentalität, das auszuschalten und können die eigene Leistung in den Vordergrund stellen.

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