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Amanal Petros und die Glücksmomente in einem schwierigen Jahr

Ein Motivationsloch nach Absage der Olympischen Spiele. Und die Ungewissheit um Freunde und Familie in Äthiopien. Für Amanal Petros hatte das Jahr 2020 viel Frust und viele Sorgen parat. Am Sonntag konnte er diese für ein paar Stunden abstreifen: In Valencia feierte er mit dem deutschen Rekord im Marathon den vorläufig größten Erfolg seiner Karriere.
Silke Bernhart

"Es bringt nichts traurig zu sein", hatte sich Amanal Petros (TV Wattenscheid 01) vor dem Marathon in Valencia gesagt. Und versucht, die Sorgen um Familie und Freunde in Äthiopien auszublenden. Dann rannte er los. So schnell, dass Trainer Tono Kirschbaum zuhause "kurz vor dem Herzstillstand war". Die Durchgangszeit beim Halbmarathon: 1:03:09 Stunden, gleichbedeutend mit einem Kurs auf eine Endzeit in Richtung 2:06 Stunden. Zu diesem Zeitpunkt lag die Bestzeit des Wattenscheiders noch bei 2:10:29 Stunden. Und der deutsche Rekord von Arne Gabius (TherapieReha Bottwartal) bei 2:08:33 Stunden.

"Ich bin in der falschen Gruppe mitgegangen", erklärt Amanal Petros am Tag nach seinem furiosen Auftritt von Valencia sein schnelles Anfangstempo. Erst bei Kilometer 6 habe er erfahren, wie schnell diese Gruppe unterwegs ist. Und sich gewundert, dass es ihm bei diesem Tempo so gut geht. "Kurz war ich verunsichert. Und habe nach hinten geschaut. Aber da war niemand." So rannte er kurzerhand weiter in dieser Gruppe mit, die ihn schließlich in seinem zweiten Marathon überhaupt bis zum deutschen Rekord führen sollte: In 2:07:18 Stunden blieb der 25-Jährige deutlich unter der Bestmarke von Arne Gabius.

"In jedem Kilometer an meine Familie gedacht"

Etwas mehr als 24 Stunden liegt der Zieleinlauf nun zurück – 24 Stunden, in denen Amanal Petros viel Anerkennung für das Durchhalten in schwierigen Zeiten erfahren konnte. "Das war schön. Kaum zu glauben. Ich glaube es eigentlich immer noch nicht", sagt er, und: "Ich bin glücklich, dass ich mein Ziel erreicht habe und dass sich die ganze Arbeit gelohnt hat."

Glücklich – das war Amanal Petros in den vergangenen Wochen nicht besonders. Die Gründe dafür hatte er wenige Tage vor dem Marathon auf Instagram öffentlich gemacht: "Ich kann meine Familie seit vier Wochen nicht erreichen", schrieb er da und berichtete von "einem offiziellen Krieg" der äthiopischen Regierung gegen die Region Tigray, in der seine Familie lebt, seit sie vor mehr als 20 Jahren aus Eritrea geflüchtet war.

Am Sonntag gelang es Petros, die Sorgen in Stärke umzumünzen. "Ich habe in jedem Kilometer an meine Familie gedacht", berichtet der 25-Jährige, der im Alter von 16 Jahren alleine als Flüchtling nach Deutschland gekommen war und in Bielefeld ein neues Zuhause gefunden hat. "Das hat mir Mut gegegeben."

Aus Motivationsloch herausgearbeitet

Dass der deutsche Rekord zum Jahresende ihm gehören würde, hätte Amanal Petros sicher vor einigen Monaten noch nicht zu träumen gewagt. Denn da war die Motivation im Keller, der Frust nach den verschobenen Olympischen Spielen sowie der Absage des 10.000 Meter-Euroapcups und der EM in Paris (Frankreich) groß: „Ich habe dann erstmal eine Pause eingelegt, es ging einfach nichts mehr", blickt Petros zurück. Ein wenig Joggen, Kraftübungen in der Wohnung – viel mehr gab der Kopf nicht her.

Über die Vorbereitung auf einen Halbmarathon im September in Frankfurt und die Halbmarathon-WM in Gdynia (Polen) im Oktober fand Amanal Petros Schritt für Schritt wieder zurück in den Leistungssport-Modus. Zuletzt konnte er in einem Trainingslager in Kenia sowohl Motivation tanken als auch Marathon-Form aufbauen. Und fand dort zugleich Halt in einer schweren Zeit, in der die Ungewissheit über den Verbleib seiner Familie dem eigentlich stets gut gelaunten Athleten schwer zu schaffen machte.

"Gesa, Fabienne, Lisa, Denise, Nada und auch Wolfgang Heinig haben mich super unterstützt", zählt Amanal Petros die Liste seiner Mitstreiter in Kenia auf, die auch zu den ersten Gratulanten nach dem Marathon-Rekord zählten. "Ihre Nachrichten waren mir sehr wichtig." Auch die Freude über die Glückwünsche seiner Freunde in Bielefeld, die für ihn zu einer Ersatz-Familie geworden sind, bedeuten ihm viel, ebenso wie der Zuspruch seines Trainers Tono Kirschbaum in Wattenscheid und seiner Trainingsgruppe, zu der mit Hendrik Pfeiffer ein weiterer Olympianorm-Erfüller im Marathon zählt.

Weihnachtswunsch: Nachricht von der Familie

Neben dem Beantworten der Glückwünsche war Amanal Petros am Sonntagnachmittag zunächst vor allem mit einem beschäftigt: der Dopingkontrolle – obligatorisch für die Anerkennung der Leistung als deutscher Rekord. Für den Läufer war es bereits die dritte Kontrolle innerhalb von drei Tagen. "Warum nicht?" sagt er, "ich bin sehr froh, dass wir das haben. Im Sport darf keiner betrügen." Gemeinsam mit weiteren deutschen Teilnehmern und Athleten-Manager Christoph Kopp endete der Tag für Amanal Petros bei einem Abendessen in einem Restaurant in Valencia.

Von den Strapazen des Marathons ("Gestern habe ich mich gefühlt wie ein 70-Jähriger") wird sich der neue deutsche Rekordmann zunächst zuhause in Bielefeld erholen. Dort lebt er, wenn er nicht für das Training am Olympiastützpunkt in Wattenscheid im Sportinternat sein Zimmer bezieht. Und dort wird er auch die Weihnachtsfeiertage begehen. Zum Feiern ist Amanal Petros trotz des sportlichen Erfolgs aber nicht so sehr zumute. Seine größten Weihnachtswünsche: "Eine Nachricht von der Familie. Kein Krieg oder Bürgerkrieg. Dass die Menschen ohne Angst und Sorgen leben können."

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