| Interview der Woche

Jonathan Hilbert: „Verrückt und ein bisschen unwirklich“

Der letzte deutsche Geher, der über 50 Kilometer schneller war, war André Höhne auf dem Weg zu Platz vier 2009 bei der WM in Berlin. In Frankfurt katapultierte sich Jonathan Hilbert (LG Ohra Energie) am Samstag in 3:43:44 Stunden in neue Dimensionen. Wie er diesen Leistungssprung erklärt und einordnet, womit er sich als erstes belohnte und wie er es geschafft hat, aus einem Motivationstief gestärkt hervorzugehen, das und mehr haben wir ihn am Tag danach im „Interview der Woche“ gefragt.
Silke Bernhart

Jonathan Hilbert, nach einem 50-Kilometer-Wettbewerb kann man mal mit der folgenden banalen Frage starten: Wie geht es Ihnen?

Jonathan Hilbert:

Den Umständen entsprechend (lacht). Besser als erwartet. Aber ich habe nicht so gut geschlafen, war aufgewühlt, musste das alles erstmal noch ein bisschen verarbeiten, was da so passiert ist.

Als Ausdauerathlet haben Sie im Vorfeld sicher auf Vieles verzichten müssen. Womit konnten Sie sich jetzt nach dem Erfolg schon ein wenig belohnen?

Jonathan Hilbert:

Ich achte sehr auf die Ernährung. Gestern war ich glücklich, dass ich endlich mal wieder einen Burger essen konnte. Heute früh habe ich mit meiner Freundin Pancakes gemacht, schön mit Nutella. Es sind die kleinen Dinge – auch einfach mal sorgenfrei und ohne Gedanken ans Training den Moment genießen.

Für Außenstehende wirken die 50 Kilometer wie eine Tortur, und sicher kann sie auch für Athleten zu einer werden. Sie machten aber am Samstag den Eindruck, als seien Sie im Flow. Würden Sie das bestätigen?

Jonathan Hilbert:

Bis 18 Kilometer musste ich erstmal in das Rennen reinfinden. Zwischen Kilometer 18 und 23 hatte ich eine schwere Phase, vor allem mental. Da habe ich tatsächlich kurz gedacht: Das könnte heute auch ein Griff ins Klo werden. Ich muss noch analysieren, woran das lag, das darf eigentlich so früh im Wettbewerb nicht passieren. Aber ab dem 25. Kilometer kam so etwas wie die zweite Luft. Da ging es wieder. Und dann bin ich wirklich in den Flow gekommen. Ich habe mich trotz des schnelleren Tempos nicht schlechter gefühlt. Da habe ich mir gedacht: Den Sieg und die Olympia-Norm lasse ich mir heute nicht mehr nehmen!

Wie emotional war es, nach so einem Rennen die Ziellinie zu überqueren?

Jonathan Hilbert:

Sehr emotional! Ich bin jetzt seit zehn Jahren Geher, und seit fast zehn Jahren ist es mein Traum, bei Olympischen Spiele zu starten. Wir trainieren so viel, so hart, Tausende Kilometer im Jahr, haben so viele Entbehrungen. Sich diesen Traum erfüllen zu können, ist schon etwas ganz Besonderes.

Mit Carl Dohmann und Nathaniel Seiler waren zwei DLV-Athleten im Wettbewerb, die ebenfalls die Olympia-Norm von 3:50 Stunden angreifen wollten und schließlich auch unterbieten konnten. Waren Sie verwundert, dass Sie beide so schnell abgeschüttelt hatten?

Jonathan Hilbert:

Ich bin im Wettkampf bei mir und schaue nicht, was die anderen machen. Ich habe meinen eigenen Plan, an dem ich mich orientiere. Natürlich habe ich mitbekommen, dass ich vorne bin und den Vorsprung schnell ausbauen konnte. Ich habe aber nicht darüber nachgedacht, ob ich den Vorsprung halten kann oder ob die anderen vielleicht wieder rankommen.

Es war Ihr erster Wettkampf seit 17 Monaten – seit der WM 2019, wo Sie sich in der Hitze von Doha als 23. ins Ziel gekämpft haben. Ist es Ihnen gar nicht schwergefallen, wieder in den Wettkampf-Modus zu finden?

Jonathan Hilbert:

Wir 50er haben ja selbst in einem normalen Jahr nur zwei Wettkämpfe, wenn es gut läuft. Wir bereiten uns bis zu einem halben Jahr auf ein Rennen vor. Daher war das für mich kein großes Problem. Ich kann mich sehr gut einschätzen und weiß, ob ich fit bin. Wir absolvieren auch im Training bis zu 40 Kilometer und gehen in Belastungen rein, die dem Wettkampf nahekommen. Daher habe ich mir nicht eine Sekunde einen Kopf darum gemacht, ob mir die Routine fehlt. Im Gegenteil: Manchmal ist es bei den 50 Kilometern auch ganz gut, wenn die Erinnerung an die Qual und das Leid schon etwas weiter zurückliegt. Dann kann man befreiter gehen.

Sie sagen, dass Sie sich gut einschätzen können. Haben Sie denn auch die Zeit von Frankfurt kommen sehen?

Jonathan Hilbert:

Ich wusste im Vorfeld: Ich bin fit, ich kann die Norm gehen. Mit dem Ziel bin ich zum Wettkampf gefahren. Eine Zeit zwischen 3:46:30 und 3:47:30 Stunden habe ich mir zugetraut. Dass es hinten raus so schnell geworden ist, habe ich erst bei Kilometer 48 realisiert, als auf einmal ein Trainer aus Potsdam gesagt hat: Geh sauber und konzentriert weiter, dann kannst du unter 3:44 Stunden bleiben. Da habe ich mich kurz erschrocken! Denn ich habe nicht groß gerechnet. Ich habe mich nur auf die Zeiten für die 2-Kilometer-Runde konzentriert. 9:12 Minuten wären genau die Olympia-Norm gewesen. Und ich war erst immer bei 9:03, 9:04 Minuten. Hinten raus bei 8:50, 8:55, 8:40 Minuten! Da habe ich schon gemerkt, es ist verdammt schnell. Aber die Zeit war eher zweitrangig.  Und im Ziel habe ich erstmal gar nicht so richtig glauben können, wie schnell ich war.

Sie haben Ihre bisherige Bestmarke um fast acht Minuten gesteigert. Da kann man schon von einem Vorstoß in neue Dimensionen sprechen. Wie ordnen Sie diesen Leistungssprung ein?

Jonathan Hilbert:

Es ist verrückt und auch ein bisschen unwirklich. Weil ich vorher selbst in Deutschland ein wenig der Underdog war. Gut, ich war 2019 bei der WM, das ist schön. Ich bin 2018 bei der DM eine 3:51 gegangen – das sind alles gute Leistungen, keine Frage. Aber mit einer 3:43 ist das jetzt alles etwas ganz Anderes. Ich hatte gestern schon während des Wettkampfs fast ein bisschen Angst vor mir selbst, als ich gehört habe, wie schnell ich bin – weil ich so überrascht war, dass ich eine solche Leistungsfähigkeit habe. Ich freue mich sehr, aber bis ich wirklich kapiert habe, dass ich 3:43 gegangen bin, dauert es sicher noch ein paar Tage.

Im Straßenlauf hat eine neue Schuhtechnologie besonders in den vergangenen Monaten zu vielen enormen Leistungssteigerungen beigetragen. Wie ist das im Gehsport?

Jonathan Hilbert:

Ich trage ein Schuhmodell, das es gibt, seitdem ich Geher bin. Das wird jedes Jahr neu aufgelegt, da gibt’s mal eine neue Farbe oder neues Obermaterial. Aber an sich ist das immer das gleiche. Wir haben keine Carbon-Sohle, das ist ein ganz normaler Schuh. Da gibt es keine neue Technik, die uns weiterhelfen könnte.

Bewährtes Material also. Und auch eine bewährte Vorbereitung? Wie haben Sie Ihr Training für die DM in Frankfurt gestaltet?

Jonathan Hilbert:

Ich habe einfach normal weiter trainiert. Ich bin der Auffassung, dass nicht diejenigen ganz oben auf dem Siegertreppchen stehen, die am meisten und am härtesten trainieren. Sondern die, die individuell und auf sich persönlich abgestimmt am besten und am cleversten trainieren. In den Leistungsbereichen, in denen wir uns bewegen, zählt aber nicht nur das Training, sondern auch das Drumherum. Ernährung, Mentaltraining… Das sind zwei Punkte, an denen ich viel gearbeitet habe. Da hatte ich viele Reserven und habe sie immer noch. Im Training habe ich nicht viel umgestellt. Vielleicht hat sich die Qualität etwas verbessert. Ansonsten würde ich sagen, dass ich einfach meine Hausaufgaben gemacht habe in den 17 Monaten seit Doha.

Sie scheinen die zurückliegenden Monate der Corona-Pandemie mit der Olympia-Verschiebung und der langen Wettkampf-freien Zeit gut bewältigt und genutzt zu haben. Oder täuscht der Eindruck?

Jonathan Hilbert:

Der kann täuschen, weil es mir mittlerweile wieder gut geht. Zu dem Zeitpunkt, als alles losging, waren wir in der unmittelbaren Olympia-Vorbereitung in Südafrika, und das Trainingslager wurde auf einmal abgebrochen. Dann stand vieles in den Sternen. Ich habe bestimmt vier Monate gebraucht, bis ich mal wieder richtig Lust auf Training hatte und mich wieder quälen konnte, weil die Perspektive fehlte. Die Deutschen Meisterschaften wurden relativ früh abgesagt. Dann hieß es, die Olympia-Qualifikationsphase geht im Dezember weiter. Auf einmal war es Anfang September. Das sind alles Sachen, die einen runterziehen. Mental habe ich schon lange gebraucht und viel mit meiner Mentaltrainerin arbeiten müssen. Erst im Dezember fing es an, dass ich mich wieder richtig gut gefühlt habe und wieder glücklich war.

Wer hat Sie in der schweren Zeit und insgesamt in den vergangenen Jahren auf Ihrem Weg begleitet – wer hat Anteil an der Leistung, die wir am Samstag miterleben durften?

Jonathan Hilbert:

Dadurch, dass es ein so langer Prozess war, steckt ein riesen Team dahinter. Angefangen bei meinen Eltern und meiner Freundin. Über meinen Trainer [Petro Zaslavskyy], mit dem ich seit zehn Jahren sehr gut zusammenarbeite, bei dem ich mich sehr in die Trainingsplanung einbringen kann. Und sämtliche Förderer wie die Deutsche und die Thüringer Sporthilfe sowie die Thüringer Polizei, bei der ich seit Oktober 2014 in der Sportfördergruppe angestellt bin und die mich immer unterstützt und mir den Rücken freihält, so gut es nur geht. Bis hin zu meiner Mentaltrainerin, meinen Trainingspartnern, den Physiotherapeuten und meinem Verein, der immer für mich da ist und bei dem ich Tag und Nacht die Verantwortlichen anrufen kann. Alles greift ineinander und treibt das große Ganze an. Da spielen so viele Kleinigkeiten zusammen, dass so eine Leistung zustande kommt.

Was erwartet Sie in den kommenden Wochen und Monaten – mit welchen Stationen und Zielen geht es weiter?

Jonathan Hilbert:

Die erste Haltestelle habe ich jetzt genommen, die erste Hürde und die erste Stufe – die Qualifikation. Damit ist die Saison ja noch lange nicht vorbei. Die Saison ist vorbei, wenn ich – nachdem ich hoffentlich nominiert werde – in Sapporo die Ziellinie überquere. Bis dahin geht es Vollgas weiter! Ich würde gerne in der unmittelbaren Wettkampf-Vorbereitung noch ein Höhentrainingslager machen, am liebsten in Livigno, dort fühle ich mich sehr wohl. Die nächste Woche werde ich nutzen, um ein bisschen runterzukommen und mir Gedanken zu machen. Dann gilt es, sich mental ein Ziel zu setzen für die Olympischen Spiele, daran werde ich mit meiner Mentaltrainerin arbeiten. Klar hat man Träume und Vorstellungen. Aber man muss sie verfestigen, konsequent umsetzen und im Training dafür arbeiten, damit man sie auch erreichen kann!

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