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Vor 80 Jahren: Rudolf Harbig vollendet einmaliges Weltrekord-Triple

Am 24. Mai 1941 gelang Rudolf Harbig, was vor und nach ihm kein Leichtathlet geschafft hat: Mit seinem 1.000-Meter-Weltrekord in Dresden trägt er sich über 400, 800 und 1.000 Meter in die globalen Rekordlisten ein. Ein Rückblick auf das Rekordrennen vor 80 Jahren und eine einmalige Karriere.
Martin Neumann

Ein kühler, steifer Wind fegt durch das Ilgen-Stadion. Die Aschenbahn ist vom Regen der Vortage aufgeweicht und tief. Am 24. Mai 1941 deutet wenig darauf hin, dass Rudolf Harbig an diesem Tag im gut besuchten Dresdener Stadion Sport-Geschichte schreiben wird. Doch dem Ausnahmeläufer gelingt in seiner Heimatstadt, was niemand vor oder bisher nach ihm erreicht hat. Nach seinen Fabel-Weltrekorden zwei Jahre zuvor über 400 Meter (46,0 sec) und 800 Meter (1:46,6 min) lief er heute vor genau 80 Jahren die 1.000 Meter so schnell wie kein Mensch zuvor: 2:21,5 Minuten zeigten die Stoppuhren. Damit steigerte der damals 27-Jährige die knapp elf Jahre alte Rekordmarke des Franzosen Jules Ladoumègue gleich um zwei Sekunden. Das einmalige Weltrekord-Triple 400, 800, 1.000 Meter war perfekt.

„Außer der Uhr hatten wir keinen Gegner. Denn dass es nur Rudi möglich war, die neue Weltrekordmarke aufzustellen, auch wenn wir die bisherige unterbieten sollten, war uns allen klar. Nach 400 Metern, die in 56,2 Sekunden passiert wurden, übernahm ich die Führung und wurde dann, nachdem die 800 Meter in 1:52,8 Minuten gelaufen waren, von Rudi abgelöst, der mit unerhört zügigen Schritten dem Ziele zustrebte und das Band in der neuen Weltrekordzeit vor (Ludwig) Kaindl und mir erreichte“, erinnert sich Dieter Giesen im Buch „Unvergessener Rudolf Harbig“. Das 1955 erschienene Werk von Rudolf Harbigs Frau Gerda zeichnet den sportlichen und privaten Werdegang des Rekordläufers nach. Für Ludwig Kaindl und Dieter Giesen zeigten die Uhren jeweils die damalige Weltklassezeit von 2:24,0 Minuten.

Rudolf Harbig fällt 34 Monate nach dem Rekordrennen im Zweiten Weltkrieg

Den letzten seiner drei Weltrekorde erzielte der gelernte Stellmacher 15 Tage nach der Hochzeit. In einer Zeit voller Leid und Entbehrungen. Denn schon mehr als anderthalb Jahre tobte damals der von Nazi-Deutschland entfachte Zweite Weltkrieg in Europa. Ein Krieg der Millionen Opfer fordern sollte. Eines von ihnen: Rudolf Harbig. Am 5. März 1944 wurde der Ausnahmeläufer an der Ostfront in der Nähe von Olchowecz (Ukraine) nach schweren Gefechten von seiner Fallschirmjägerdivision als vermisst gemeldet. Wahrscheinlich fiel er am selben Tag. Sein Name steht im Gedenkbuch der deutschen Kriegsgräberstätte in Kiew. Die plötzliche Einberufung während eines Ländervergleichs mit Belgien traf den Läufer vollkommen überraschend. „Gestern noch bin ich gegen die Belgier gelaufen, am vorigen Sonntag war ich mit den Engländern zusammen, und nun auf einmal… Warum das alles?“, beschreibt Gerda Harbig in „Unvergessener Rudolf Harbig“ die Reaktion ihres Mannes.

Rudolf Harbigs Grab ist bis heute nicht gefunden worden. Zu seinem 100. Geburtstag 2013 bestätigte die Kriegsgräberfürsorge: „Unsere Mitarbeiter haben bisher keine Grablage entdeckt. Nach 70 Jahren ist es fast unmöglich, diese Gräber zu finden, sofern die überhaupt noch zugänglich sind.“ Nur 35 Monate nach der Hochzeit hatte Gerda Harbig ihren Mann verloren. Ihr einziges Kind Ulrike war noch kein Jahr alt. Seinen letzten Wettkampf bestritt der Dresdner an seinem 29. Geburtstag am 8. November 1942 bei einem Hallensportfest in Magdeburg und siegte über 1.000 Meter. Danach wurde ihm kein Sonderurlaub für Wettkämpfe oder Training mehr genehmigt.

Dass Rudolf Harbig in den späten 1930er-Jahren die 400 und 800 Meter dominieren sollte, hatte sich in seiner Jugend nicht abgezeichnet. Zwar nahm der aus einfachsten Verhältnissen stammende Schüler an Läufen teil, doch spielte er auch Handball und Fußball, schwamm, fuhr Rad und Ski. Da er nach der Ausbildung als Stellmacher nicht übernommen wurde, schlug er sich mit Gelegenheitsarbeiten durch und verpflichtete sich 1932 für drei Jahre bei der Reichswehr.

Steigerung um 18 Sekunden in fünf Jahren

Entdeckt wurde Rudolf Harbig 1934 beim „Tag des unbekannten Sportmannes“ vom damaligen Reichstrainer Woldemar Gerschler. Zwar siegte er bei einem der Regional-Wettkämpfe in Dresden, doch lief er die 800 Meter lediglich in 2:04 Minuten. Eine unbedeutende Leistung, denn bei den Wettkämpfen sollten Talente für die Olympischen Spiele 1936 in Berlin entdeckt werden. Für die kam der Dresdner zu diesem Zeitpunkt ohne Frage nicht infrage. Aber Woldemar Gerschler erkannte das Potenzial Rudolf Harbigs. Der 24. Juni 1934 sollte zum Wendepunkt in seinem Leben werden. Woldemar Gerschler nahm ihn unter seine Fittiche und formte ihn zum Weltrekordläufer.

Die große Stärke Rudolf Harbigs war schon zu Beginn seiner Karriere der knallharte Endspurt. Die Grundschnelligkeit baute Woldemar Gerschler weiter aus und setzte im Training außerdem auf intensive Intervalleinheiten. Rudolf Harbigs Bestzeiten von 10,6 Sekunden über 100 Meter und 21,5 Sekunden über 200 Meter sind noch heute starke Zubringerleistungen von Klasse-Mittelstreckenläufern.

Olympische Spiele 1936: Auf Vorlauf-Aus folgt Staffel-Bronze

Selbst Rückschläge verkraftete er: So schied Rudolf Harbig bei seinen ersten Deutschen Meisterschaften 1934 in Nürnberg mit 2:05,6 Minuten als Sechster im 800-Meter-Vorlauf chancenlos aus. Trotzdem gelang ihm schon zwei Jahre später die Olympia-Qualifikation. Nach seinem freiwilligen Ausscheiden aus der Reichswehr im Sommer 1935 konnte sich der 1,74 Meter große und 62 Kilogramm schwere Läufer voll aufs Training konzentrieren. Zwar überstand er in Berlin geschwächt von einer Magen-Darm-Grippe den 800-Meter-Vorlauf nicht, sicherte aber der deutschen 4x400-Meter-Staffel wenige Tage später als Schlussläufer die olympische Bronzemedaille.

Nach seinen ersten deutschen Rekorden über 800 Meter und dem EM-Sieg 1938 war der Weg bereitet für eine Olympia-Medaille 1940 in Helsinki. Doch der Zweite Weltkrieg machte Rudolf Harbigs Hoffnungen zunichte. So wurde das Jahr 1939 das überragende seiner Karriere. 23 Rennen in nur 56 Tagen absolvierte der Außergewöhnliche, zwei davon beendete er mit Weltrekorden.

„Ihre Uhr ist defekt.“ – Fabel-Weltrekord über 800 Meter in Mailand

Das Rennen der Rennen fand am 15. Juli auf der 500-Meter-Bahn (damals noch rekordkonform) der Arena Civica in Mailand statt. Mit dabei: Rudolf Harbigs größter Konkurrent Mario Lanzi. Der Italiener startete für einen Mailänder Klub und wollte nach Olympia-Silber 1936 seine Karriere mit einem Weltrekord vor heimischem Publikum krönen. Nach 300 Metern lag er schon 2,1 Sekunden vor Rudolf Harbig, doch der schloss bis 700 Meter (1:33,2 min) auf und nahm seinem Konkurrenten auf den letzten 100 Metern noch 2,4 Sekunden ab, wie die Zwischenzeiten von anwesenden Trainern und Journalisten belegten.

Mit 1:46,6 Minuten stellte Rudolf Harbig einen Fabel-Weltrekord auf. Die Bestmarke des Briten Sydney Wooderson steigerte er gleich um unglaubliche 1,8 Sekunden, was vorher und nachher keinem anderen 800-Meter-Läufer gelang. Der Rekord hatte bis August 1955 mehr als 16 Jahre lang Bestand. Als Woldemar Gerschler seinem Schützling die Stoppuhr vor die Augen hielt, entgegnete dieser: „Ihre Uhr ist defekt.“ Doch schon bald kam die Bestätigung. Mario Lanzi musste sich als Zweiter mit dem neuen italienischen Rekord von 1:49,0 Minuten trösten. In den Trainingsaufzeichnungen von Rudolf Harbig findet sich zwei Tage vor dem Rekordrennen folgendes Programm: 600 Meter in 87 Sekunden, 10 Minuten Pause, 300 Meter in 36,9 Sekunden, 10 Minuten Pause, 500 Meter in 66,7 Sekunden.

400-Meter-Weltrekord vier Wochen später in Frankfurt

Um die Leistung einzuordnen: Gerade einmal sechs Tage zuvor war Rudolf Harbig bei den Deutschen Meisterschaften in Berlin mit 1:49,4 Minuten als erster Deutscher unter der 1:50-Minuten-Marke geblieben. In Mailand lief er fast drei Sekunden schneller und definierte eine neue Leistungsdimension. Der deutsche Rekord hatte mehr als 20 Jahre Bestand. Erst der spätere langjährige Bundestrainer Paul Schmidt lief am 20. September 1959 vier Zehntelsekunden schneller als Rudolf Harbig.

Exakt vier Wochen später sollte es in Frankfurt zur großen Revanche kommen. Mario Lanzi forderte Rudolf Harbig über 400 Meter. Elf Buchstaben genügten auf den Plakaten an den Litfaßsäulen, um für das Sportfest zum 40-jährigen Bestehen der „Eintracht“ zu werben: „Harbig kommt“ war überall in der Mainmetropole zu lesen. 15.000 Zuschauer ließen es sich nicht nehmen, die beiden Top-Läufer am 12. August auf der 500-Meter-Bahn im Waldstadion zu bewundern. Wie in Mailand diktierte Mario Lanzi zu Beginn das Tempo, erst bei 300 Metern lagen beide in etwa 33,5 Sekunden fast gleichauf. Wieder spielte Rudolf Harbig seine Endschnelligkeit aus und zog um 1,2 Sekunden davon. Mit 46,0 Sekunden verbesserte er den Weltrekord von Olympiasieger Archie Williams (USA) um eine Zehntelsekunde.

Seit 1950 verleiht der DLV den Rudolf-Harbig-Gedächtnispreis

19 Tage später beginnt mit dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg. Sport wurde zur Nebensache. Rudolf Harbigs 1.000-Meter-Weltrekord heute vor 80 Jahren sticht als außergewöhnliche Leistung in den entbehrungsreichen Kriegsjahren hervor. 15 der 60 Männer aus der deutschen Leichtathletik-Olympiamannschaft von 1936 – darunter Rudolf Harbig, 4x400-Meter-Startläufer Helmut Hamann und der Weitsprung-Zweite Luz Long – kehrten von den schrecklichen Schlachtfeldern Europas nicht zurück.

Was bleibt, ist die einmalige Leistung Rudolf Harbigs, der als einziger Läufer der Leichtathletik-Geschichte Weltrekorde über 400 Meter, 800 Meter und 1.000 Meter aufstellte. Seit 2018 trägt der Ort des Weltrekordlaufs von 1941, gleichzeitig Heimspielstätte von Dynamo Dresden, wieder den Namen Rudolf-Harbig-Stadion wie schon zwischen 1951 und 1971. Zur ersten Namensgebung 1951 erlebten 20.000 Zuschauer den Harbig-Gedenklauf über 800 Meter. Der neue-alte Name wurde am 18. September 2018 beim Zweitligaspiel gegen den HSV u.a. von Ulrike Harbig auf dem Spielfeld präsentiert. Zum 100. Geburtstag Rudolf Harbigs enthüllte die Tochter am 8. November 2013 ein Straßenschild des neu benannten Rudolf-Harbig-Wegs in Dresden.

In Gedenken an den Ausnahmeathleten verleiht der Deutsche Leichtathletik-Verband seit 1950 anlässlich der Deutschen Meisterschaften den Rudolf-Harbig-Gedächtnispreis an einen „würdigen und verdienten Leichtathleten, der in Haltung und Leistung als Vorbild für die Jugend gelten kann“. Erster Preisträger war der Stuttgarter Hindernisläufer Alfred Dompert, der 1936 in Berlin ebenfalls Olympia-Bronze gewann.

Anlässlich des 80. Geburtstags des Harbig-Weltrekordes zeigte der Mitteldeutsche Rundfunk am 22. Mai einen Videobeitrag, der hier abgerufen werden kann.

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