| Interview der Woche

Jonathan Hilbert: „Ich hatte Sorgen, dass ich diesen olympischen Traum verpasse“

29 Jahre nach dem heutigen Bundestrainer Ronald Weigel hat Jonathan Hilbert (LG Ohra Energie) am Freitag bei den Olympischen Spielen wieder eine deutsche Medaille im Gehen geholt. Sein Silber markierte zugleich den Abschied von der 50-Kilometer-Strecke. Das Rennen bestritt er in Sapporo, die Siegerehrung durfte der 26-Jährige am Tag darauf im Olympiastadion von Tokio erleben. Wir haben mit ihm gesprochen über seinen historischen Erfolg, den harten Weg dorthin, seine Wegbegleiter und seine Zukunft auf der 35-Kilometer-Distanz.
Silke Bernhart

Olympische Spiele 2021

Jonathan Hilbert, Sie sind jetzt seit anderthalb Tagen Silbermedaillen-Gewinner bei Olympischen Spielen. Was war der schönste Moment in den vergangenen Stunden?

Jonathan Hilbert:

Das sind viele Momente. Der Moment als ich ins Ziel gekommen bin. Der Moment, als ich meine Liebsten zuhause kurz telefonisch erreichen konnte: meine Freundin, meine Eltern, Opa und Oma. Die FaceTime-Session mit meinen engsten Freunden. Das waren schöne Momente. Und das gesamte Drumherum. Das Hierher-Fliegen, das Procedere mit der Medaillen-Zeremonie. Jedes Interview. Das gehört dazu, das genieße ich in vollen Zügen. Wie ich empfangen wurde von den Athleten am TeamD-Haus im Olympischen Dorf, all das sind Momente, in denen ich Gänsehaut hatte und die mich wirklich rühren.

Nach Ihrem deutschen Meistertitel im April, als Sie sich mit einer Weltklasse-Zeit für die Olympischen Spiele qualifizieren konnten, haben Sie berichtet, dass Sie mental viel gearbeitet und vor allem Erfolge und Möglichkeiten visualisiert haben. War das, was jetzt hier passiert, auch etwas, das Sie sich im Vorfeld vorgestellt haben?

Jonathan Hilbert:

Ich bin nicht hierher gefahren mit der ganz klaren Zielstellung nach außen, dass ich eine Medaille gewinnen will. Aber ich habe ganz tief in meinem Inneren immer damit geliebäugelt. Und hatte oft im Training die Bilder vor Augen, wie ich jubele und wie ich eine Medaille gewonnen habe. Ich bin der Meinung, wenn man etwas wirklich innerlich fühlt, vor seinem inneren Auge sieht, wenn man etwas träumen kann und dabei Gänsehaut bekommt – dann kann man es auch schaffen.

Sie haben in Interviews nach dem Erfolg berichtet, dass Sie diese Zuversicht in den vergangenen Monaten auf dem Weg nach Tokio nicht immer hatten. Was war da los?

Jonathan Hilbert:

Ich hatte in den letzten Monaten gesundheitliche Probleme. Die gesamte Crew von Dr. Gerald Lutz und Physiotherapeut Torsten Rocktäschel in Erfurt hat mich wieder geradegebogen und mir ermöglicht, dass ich für Olympia wieder fit werden konnte. Ich musste viel alternativ trainieren. An dem einen oder anderen Abend saß ich weinend auf der Couch, weil ich wieder Schmerzen hatte im Bereich des Schambeins und an den Adduktoren-Ansätzen. Und weil ich Sorge hatte, dass ich diesen olympischen Traum verpasse.

Wer hat Sie in diesen Situationen aufgebaut?

Jonathan Hilbert:

Da hatte ich einen ganz engen Draht zu meiner Freundin, die immer für mich da war. Die in Leipzig bei sich alles hat stehen- und liegenlassen, als es mir schlecht ging. Sie hat innerhalb von zehn Minuten ihr Zugticket gebucht, ihre Tasche gepackt und ist zu mir nach Erfurt gekommen für ein, zwei Tage.

Und wie ging es Ihnen hier vor dem Wettkampf?

Jonathan Hilbert:

Ich bin super froh und dankbar, dass die Olympischen Spiele stattfinden. Aber dieses Eingesperrtsein ist für mich sehr schwierig. Ich bewege mich gerne, gehe gerne einfach mal einen Kaffee trinken, um den Kopf abzuschalten. Ich mag es nicht, unmittelbar vor dem Rennen auf dem Zimmer zu sitzen. Da macht man sich schon schnell viel zu viele Gedanken über das Rennen. Auch da habe ich viel mit meiner Freundin gefacetimed, wir haben viel gesprochen und das hat mich super abgelenkt, sie hat mich gut durch die mental schwere Zeit gebracht.

Blicken wir mit etwas Abstand auf den Wettbewerb. Hätte es irgendwie noch besser laufen können?

Jonathan Hilbert:

Nein, hätte es nicht. Wir sind ruhig gestartet, immer schneller geworden, ich bin im Bereich der Olympia-Norm gegangen bei Bedingungen von 30 Grad und hoher Luftfeuchtigkeit. Ich war immer in der Spitzengruppe, immer vorne dran, habe auf Attacken reagiert, bin mutig gewesen und habe irgendwann das Herz in die Hand genommen und mir die Medaille gesichert. Es gibt nichts, was ich hätte besser machen können.

Der letzte deutsche Geher, der bei Olympischen Spiele eine Medaille gewonnen hat – 1992 Bronze über 50 Kilometer – ist der heutige Bundestrainer Ronald Weigel. Was hat er zu Ihnen nach dem Erfolg gesagt?

Jonathan Hilbert:

Er war auch zu Tränen gerührt. Herr Weigel hat mich die letzten Jahre massiv unterstützt. Es lief nicht immer gut, ich hatte einige Verletzungen und auch einige Wettkämpfe, in denen ich definitiv nicht performt habe und nicht ganz klar war, woran es gelegen hat. Aber Herr Weigel hat immer in mich vertraut. Auch als ich vor den Olympischen Spielen verletzt war. Mit dieser Medaille möchte ich ihm etwas zurückgeben.

Den größten Anteil an Ihrem Erfolg hat aber sicher Ihr Heimtrainer Petro Zaslavskyy. Wie würden Sie die Zusammenarbeit beschreiben?

Jonathan Hilbert:

Er ist derjenige, der mich fast auf den Tag genau vor zehn Jahren in seine Trainingsgruppe geholt hat. Seit zehn Jahren bin ich Geher, und seit zehn Jahren bin ich bei meinem Trainer. Das sagt viel darüber aus, was wir für ein Verhältnis haben. Wir kennen uns in- und auswendig. Er bindet mich massiv in die Trainingsplanung ein. Er gibt mir freie Hand, er hört auf mich, wenn ich sage, dass es mir schlecht geht. Er hat mir immer Mut gemacht und mich aufgebaut. Er hat das Training so gestaltet, dass ich mich kontinuierlich verbessere und nicht mit dem Kopf durch die Wand gehe. Petro Zaslavskyy ist schon seit über 30 Jahren Trainer und hat sehr viel Erfahrung. Ihm ist mit Sicherheit der größte Anteil an meinem Erfolg zuzuschreiben. Und es macht mich stolz, dass ich ihm nach 30 Jahren die erste internationale Medaille beschert haben. Das werden wir sicher zuhause noch gebührend feiern.

Macht es für Sie das olympische Erlebnis perfekt, dass Sie für die Siegerehrung nun doch noch von Sapporo nach Tokio und ins Olympische Dorf reisen durften?

Jonathan Hilbert:

Mit dem Medaillengewinn ist für mich die Welt eh in Ordnung. Aber wenn man das Ganze mal pragmatisch betrachtet: Das olympische Flair hat in Sapporo ein wenig gefehlt. Man hat nirgends gesehen, dass dort ein olympischer Wettbewerb stattfindet. Man hätte Kleinigkeiten organisieren können, im Hotelzimmer jedem Athleten die Tokio 2020-Decken ins Bett legen, eine olympische Fahne hissen, überall ein bisschen Werbung machen. Es hat sich dort wie eine WM angefühlt. Dass ich jetzt in Tokio sein kann, dass ich hier die Medaille erhalten und noch mal eine Nacht schlafen darf, macht mich super glücklich. Ich bin grad auf Wolke sieben.

Es war das letzte Mal, dass die 50 Kilometer auf dem olympischen Wettkampf-Programm standen, jetzt geht es auf die 35 Kilometer. Eine Strecke, die Ihnen auch liegt?

Jonathan Hilbert:

Ja, daran habe ich keinen Zweifel! Ich glaube, ich passe genau in dieses Raster. Ich habe eine gute Mischung aus Kraft, Schnelligkeit und der nötigen Ausdauer. Auf diese drei Komponenten kommt es an, und auch die Technik wird eine große Rolle spielen. Weil es über einen längeren Zeitraum um eine etwas höhere Geschwindigkeit geht. Wenn man da eine sehr ergonomische, kraftsparende Technik hat, ist man gut aufgestellt. Daher gehe ich sehr zuversichtlich in die nächsten Jahre und möchte auch an die Erfolge hier anknüpfen.

Olympische Spiele 2021

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