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Vor 30 Jahren in Tokio: Die erste Leichtathletik-WM mit einem gesamtdeutschen Team

1991 in Tokio startete erstmals nach der Wiedervereinigung ein gesamtdeutsches Team bei einer Leichtathletik-WM. Top-Athleten aus Ost und West von damals erinnern sich an die besondere WM vor 30 Jahren in der Olympia-Stadt von 2021. Ohnehin ist Tokio ein besonderer Ort für den deutschen Sport.
Martin Neumann

Die beiden deutschen Fahnen zu einer verknotet, die Fahnenträger Gabriele Lippe und Ulf Timmermann Arm im Arm im Stadion: Die deutschen Leichtathleten kamen der Wiedervereinigung nach mehr als 40 Jahren deutscher Teilung am 1. September 1990 bei der EM-Schlussfeier zuvor. In Split (Kroatien) waren knapp fünf Wochen vor der offiziellen Wiedervereinigung noch die Bundesrepublik mit dem markanten roten Brustring und die DDR in den traditionellen blauen Trikots getrennt an den Start gegangen. Bei der Schlussfeier zelebrierten sie spontan die sportliche Wiedervereinigung.

Vor 30 Jahren – ein Jahr nach Split – wurde dann die erste große internationale Leichtathletik-Meisterschaft mit dem vereinigten Deutschland in Tokio ausgetragen. Und damit exakt in der Olympia-Stadt von 2021 und dem Ort, wo 1964 letztmals eine gemeinsame deutsche Olympia-Mannschaft antrat und der im Juli 2020 verstorbene Willi Holdorf zur Zehnkampf-Legende wurde. Ab 1968 gingen für zwei Jahrzehnte Sommer- wie Wintersportler für die Bundesrepublik und DDR getrennt auf die prestigeträchtige Medaillenjagd. Man kann sagen: Tokio ist ein symbolischer Ort für den olympischen Sport Deutschlands.

Die Leichtathletik-WM 1991 in Tokio ist auch heute – 30 Jahre später – den deutschen Startern in besonderer Erinnerung. Es war eben kein Wettkampf wie jeder andere. Denn es war die erste Leichtathletik-WM überhaupt seit der Premiere 1983 in Helsinki (Finnland) mit einer gemeinsamen deutschen Mannschaft. „Es war damals eine sehr spannende Zeit“, erinnert sich Florian Schwarthoff. Der Hürdensprinter aus Hessen, der in Tokio auf Platz sieben lief und fünf Jahre später in Atlanta (USA) mit Olympia-Bronze seinen größten Erfolg feiern sollte, kannte zwar die DDR-Sportler schon aus vielen Wettkämpfen, doch ohne groß in Kontakt treten zu können.

Noch heute intakte Freundschaften sind entstanden

„Die 'Aufpasser' waren ja stets präsent. Es war deutlich zu sehen, dass die Athleten, Trainer und Betreuer aus Ost und West andere Erfahrungen, andere Werdegänge in den Leistungssport und andere Lebensumstände mitgebracht haben. Nach den ersten Berührungsschwierigkeiten hat man sich dann schnell mit den Athleten angefreundet. Das gemeinsame Trainingslager im Vorfeld der WM in Südkorea und die dort gemeinsam verbrachte Zeit hat viel dazu beigetragen“, blickt der heute 53-Jährige zurück, der seit vielen Jahren als Architekt eine erfolgreiche berufliche Karriere gestartet hat. Aus der damaligen Zeit sind Freundschaften entstanden, die auch noch heute intakt sind. „Einer meiner engen Freunde ist ein Athlet aus der früheren DDR-Nationalmannschaft“, so Florian Schwarthoff.

Ähnlich beschreibt Heike Drechsler die aufregenden Monate und Jahre rund um die „Wende“. „Wir hatten in Tokio eine starke Mannschaft, mussten dort aber erstmal zusammenwachsen. Wie sich herausgestellt hat, war das für uns Sportler kein Problem“, erinnert sich die heute 56-Jährige, die in Tokio Silber im Weitsprung und Bronze mit der 4x100-Meter-Staffel gewann. Ihre herausragende Karriere krönte sie 1992 und 2000 mit den Weitsprung-Olympiasiegen.

Heike Drechsler und Katrin Dörre-Heinig: Mutter-Freuden in der Wende-Zeit

Selbst eine Ausnahmesportlerin wie Heike Drechsler wurde in dieser so besonderen Zeit – so wie viele andere Menschen innerhalb und außerhalb des Sports – von Zukunftsängsten geplagt. „Natürlich gab es die. Ich war gerade Mutter geworden, musste meine Rolle zwischen Familie, Sport und Politik finden. Aber die Liebe zu meinem Sport war groß. Warum sollte ich nicht auch unter den neuen Bedingungen erfolgreich sein? Ich wusste immer was ich wollte, auf alle Fälle nicht in einer 'DDR-Schublade' verschwinden.“

In einer ähnlichen Situation befand sich damals Katrin-Dörre Heinig. Auch die Marathonläuferin war gerade Mutter geworden. Ihre im Sommer 1989 geborene Tochter Katharina belegte Anfang August im olympischen Marathon in Sapporo Platz 31. Mit Katrin Dörre-Heinig als Bundestrainerin. Ein weiterer Kreis schließt sich. „Es änderte sich mit der Wiedervereinigung alles. Wir mussten lernen, uns selbst zu organisieren, neue Wege zu gehen, Risiken einzugehen. Es war alles neu, aber wir bekamen dadurch auch die Möglichkeit, uns selbst zu verwirklichen, uns Ziele zu setzen, die vorher nie möglich gewesen wären. Erst durch die Wiedervereinigung war es für mich machbar, sportlich nochmal durchzustarten“, erzählt die heute 59-Jährige.

Viele neue Perspektiven nach der Wiedervereinigung

Denn zu DDR-Zeiten wäre es ihr nicht möglich gewesen, gemeinsam mit Mann und Kind in ein wochenlanges Höhentrainingslager zu reisen. „Da dies für mich nie eine Option war, hatte ich schon längst den Entschluss gefasst, meine Karriere nach Katharinas Geburt zu beenden und mich auf mein Medizinstudium zu konzentrieren. Nun war aber alles offen. Ich ließ mich nach dem Physikum exmatrikulieren und wollte zwei Jahre auf die Karte Sport setzen“, erzählt die heutige Marathon-Bundestrainerin. Bereut hat sie die Entscheidung nie: „Denn es sollten die erfolgreichsten Jahre meiner Karriere folgen.“ Und es waren deutlich mehr als zwei.

Katrin Dörre-Heinig erinnert sich noch genau an die „Wendemonate“ im Herbst 1989. Denn als Leipzigerin erlebte sie die Montagsdemos, die entscheidend für den Sturz der DDR verantwortlich waren, hautnah mit: „Dort, wo ich studiert habe, fanden die Montagsdemos statt. Die Weichen wurden bei der Demo am 9. Oktober 1989 gestellt. Keiner wusste, was passiert. Gibt es einen friedlichen Ausgang? Oder endet es wie in Rumänien, als die Demos brutal niedergeschlagen wurden? Gegen Abend wurde die Demo friedlich beendet und die Macht des SED-Staats gebrochen.“

Heike Henkel in der Form ihres Lebens

Wenn Hochsprung-Star Heike Henkel an Anfang der 1990er-Jahre zurückdenkt, erinnert sie sich an die Veränderung in der Nationalmannschaft. „Der Anteil der Athleten aus dem Osten war höher als der aus Westen“, so die Weltmeisterin, die in Tokio 2,05 Meter übersprang. Für 18 Jahre war diese Höhe deutscher Rekord. Besonders gern denkt die Olympiasiegerin von 1992 an das Abschlusstraining vor der WM. „Da bin ich das erste und letzte Mal im Training 2,00 Meter gesprungen. Das zeigte, wie gut ich in Form war“, sagt die heute 57-Jährige.

Ängste vor der Zukunft verspürte die immer noch amtierende Deutsche Hallenrekordlerin (2,07 m) nicht: „Meine Rahmenbedingungen waren ja dieselben geblieben.“ Außerdem verweist die Leverkusenerin auf den damals langsam startenden Anti-Doping-Kampf: „Das war eine positive Entwicklung für den Sport.“

Aus sechs wurden nur noch drei Startplätze

Bei aller Freude über die Wiedervereinigung mussten sich die Leichtathleten – wie alle anderen Sportler – einer neuen Herausforderung stellen. Denn plötzlich gab’s nur noch die Hälfte der begehrten Startplätze für internationale Meisterschaften. Sechs statt drei bei der WM 1991 für die deutschen Leichtathleten. „Man musste sich unter den Top Drei behaupten“, so Katrin Dörre-Heinig. Denn wer es nicht ins Team für Weltmeisterschaften oder Olympische Spiele schaffte, musste mit finanziellen Einbußen rechnen. So wurde die Wiedervereinigung für manchen Sportler zur Endstation der Karriere.

Nicht so für Weitspringer Dietmar Haaf. „Denn es gab zu dieser Zeit keine DDR-Weitspringer, die meinen Start in Tokio gefährdet hätten. Trotzdem hat die neue Konkurrenz noch mehr angespornt. Und egal, woher man kam: Die Erfolge in Tokio wurden von Athleten egal ob aus Ost oder West gebührend in den Hotelzimmern gefeiert“, blickt der Kornwestheimer zurück.

Für Dietmar Haaf kam die größte Konkurrenz aus den USA. 1991 in Tokio war der heute 54-Jährige bester „Nicht-US-Weitspringer“. Seine 8,22 Meter reichten trotzdem „nur“ zu Platz vier. Denn in Tokio pushten sich Mike Powell mit Weltrekord (8,95 m), Leichtathletik-Legende Carl Lewis (8,91 m) und Larry Myricks (8,42 m) zu Ausnahmeleistungen. „Das war beste Wettkampf meiner Karriere und insgesamt der größte Weitsprungwettbewerb, den es je gab“, blickt Dietmar Haaf 30 Jahre zurück.

Ein Knoten führt zu vielen persönlichen Verbindungen

Trotz des „fortgeschrittenen Sportleralters“ von 31 Jahren entschied sich Petra Felke, ihre Karriere nach der Wiedervereinigung fortzusetzen. „Ich hatte als Olympiasiegerin von Seoul und Weltrekordlerin natürlich sehr gute Voraussetzungen“, so die 80-Meter-Werferin aus Jena. Der Wettkampf in Tokio mit WM-Silber sollte ihr Recht geben. Sorgen machte sie sich trotzdem. „Zum Beispiel über meinen Heimatverein und die Trainer. Zum Glück konnte ein Teil der guten Bedingungen mit den Sportstätten und der Sportschule erhalten bleiben“, so Petra Felke.

Schon vor der Wiedervereinigung hatte die Speerwerferin aus Jena ein gutes Verhältnis zu den Disziplinkolleginnen aus dem Westen, beispielsweise zu Manuela Alizadeh und Ingrid Thyssen. Katrin Dörre-Heinig schwärmt noch heute von den Begegnungen mit Charlotte Teske und der ehemaligen Marathon-Weltrekordlerin Christa Vahlensieck aus der Bundesrepublik. Kontakt besteht noch heute zu den ehemaligen Läufern Uta Pippig und Dietmar Baumann.

Dietmar Haaf traf vor einigen Jahren Weltrekordler Mike Powell in Pliezhausen bei einem Showtraining. „Es war supernett, mit ihm mal wieder zu reden“, so der ehemalige Weitspringer. Aus Konkurrenten von 1991 sind zum Teil enge Freunde geworden. So wie es auch Florian Schwarthoff berichtet. Der Knoten der zwei deutschen Fahnen 1990 in Split hat sich nach der WM 1991 in Tokio in vielen persönlichen Bindungen fortgesetzt.

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