| Internationales

Olympic Moments 2021: Mariya Lasitskene und die Tränen nach dem Triumph

Zahlreiche internationale Leichtathletik-Asse haben bei den Olympischen Spielen in Tokio (Japan) für Gänsehautmomente gesorgt. Wir blicken zurück auf herausragende Leistungen, erzählen außergewöhnliche Geschichten und stellen beeindruckende Persönlichkeiten vor. Diesmal: Mariya Lasitskene. Die russische Hochspringerin feierte bei ihrem womöglich einzigen Olympia-Auftritt den größten Sieg ihrer Karriere. Dabei stand sie sowohl in der Qualifikation als auch im Finale schon mit dem Rücken zur Wand.
Martin Neumann

Am Abend des 7. August drohte ein zehn Jahre währender olympischer Traum endgültig zu platzen. Hochspringerin Mariya Lasitskene musste im olympischen Finale von Tokio schon bei 1,96 Metern in den dritten Versuch. Wäre die Latte auch diesmal gefallen, hätte die 28-jährige Russin die Medaillenplätze deutlich verpasst. Doch die Latte blieb liegen. So wie in der folgenden Stunde bei 1,98, 2,00, 2,02 und 2,04 Metern. Als der Olympiasieg feststand, sank die sonst so introvertiert wirkende Hochspringerin auf die Knie, schlug immer wieder die Hände vors Gesicht und ließ ihren Freudentränen freien Lauf.

Eine allzu verständliche Reaktion. Zwar war Mariya Lasitskene schon dreimal Weltmeisterin, doch die Spiele in Tokio waren für sie womöglich die erste und einzige Chance auf Olympia-Gold. Schon in der Qualifikation zwei Tage zuvor hatte sich die Russin nur ganz knapp mit im dritten Versuch übersprungenen 1,95 Metern überhaupt fürs Finale qualifiziert. „Ich kann man mich an nichts mehr erinnern, an gar nichts. In meinem Kopf war ein richtiger Nebel. Aber ich habe mir gesagt, dass ich nicht aufgeben werde“, sagte die sichtlich gerührte Hochspringerin nach ihrem Triumph in Tokio.

Bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris wäre sie (schon) 31 Jahre alt und hätte knapp zwei Jahrzehnte Leistungssport in den Knochen. Bereits 2012 zählte die Hochspringerin als 19-Jährige unter ihrem Mädchennamen Mariya Kuchina mit 1,96 Metern zur Weltklasse, verpasste aber den Olympia-Start in London als Siebte der Russischen Meisterschaften. Trösten durfte sie sich mit Bronze bei den U20-Weltmeisterschaften in Barcelona (Spanien), sie war einen Fehlversuch besser als die mit 1,88 Metern höhengleiche viertplatzierte Alexandra Plaza (LT DSHS Köln).

Auch die „Heim-WM“ 2013 verpasst

Den nächsten Rückschlag musste die 1,80 Meter große Hochspringerin ein Jahr später einstecken. Trotz ihres Siegs bei den Team-Europameisterschaften in Gateshead (1,98 m) wurde sie nicht für die „Heim-WM“ in Moskau nominiert. Rang vier bei den Russischen Meisterschaften hinter zwei später des Dopings überführten Athletinnen gab den Ausschlag. „Ich war sehr wütend und habe mir nur den Hochsprung-Wettbewerb im Fernsehen angeschaut. Bei allen anderen Entscheidungen habe ich lieber trainiert“, blickt Mariya Lasitskene zurück.

Was folgte, war ein kometenhafter Aufstieg zur besten Hochspringerin der Welt: erster 2,00-Meter-Sprung am 16. Januar 2014, WM-Hattrick 2015, 2017, 2019, Europameisterin 2018 in Berlin, Hallen-Weltmeisterin 2014 und 2018, Hallen-Europameisterin 2015 und 2017. Nur der eine, der ganz besondere Sieg fehlte in der Vita von Mariya Lasitskene – bis eben zum 7. August 2021.

Denn 2016 bei den Olympischen Spielen in Rio durfte die Gold-Aspirantin wie alle russischen Leichtathleten mit Ausnahme der Weitspringerin Darya Klishina nicht starten. Zu tief waren die Doping-Verstrickungen des russischen Sport-Systems, noch immer ist der russische Leichtathletik-Verband für internationale Wettkämpfe gesperrt. Russische Leichtathleten starten als „autorisierte neutrale Athleten“. Nur zehn von ihnen durften in Tokio dabei sein, einzig Mariya Lasitskene gewann am letzten Tag der Stadion-Wettbewerbe eine Goldmedaille.

Von 1,80 Meter in Dessau auf 2,04 Meter in Tokio

Dabei sah es zu Beginn des Olympiasommers gar nicht nach dem größtmöglichen sportlichen Triumph aus. Ihre Saison begann Mariya Lasitskene Ende Mai in Dessau mit für sie indiskutablen 1,80 Metern. Bis zum Olympia-Finale folgten vier Wettkämpfe zwischen 1,88 und 1,95 Metern. Nur einmal schaffte sie vor Tokio 2,00 Meter. Nicht unbedingt ein beeindruckendes Bewerbungsschreiben für einen Olympiasieg. Schließlich sprang die 28-Jährige schon fünfmal in ihrer Karriere 2,05 oder 2,06 Meter.

Doch keine zwölf Wochen nach dem Rückschlag in Dessau wurde zu ihren Ehren in Tokio das „Klavierkonzert Nummer 1“ von Pjotr Tschaikowsky gespielt und die olympische Flagge gehisst. Denn weder die russische Hymne noch die russische Flagge waren in Tokio für die Athleten des Teams des „Russischen Olympischen Komitees“ erlaubt. „Ich wusste, welche Verantwortung auf meinen Schultern lag“, sagte die dreifache Weltmeisterin nach ihrem Olympia-Triumph, den sie vor Nicola McDermott (Australien; 2,02 m) und Yaroslava Mahuchikh (Ukraine; 2,00 m) perfekt machte. Marie-Laurence Jungfleisch (VfB Stuttgart) schaffte anders als die spätere Olympiasiegerin 1,96 Meter im dritten Anlauf nicht. Sie wurde in Tokio mit 1,93 Metern Zehnte.

Nach fast einem Jahrzehnt in der Hochsprung-Weltspitze ist Mariya Lasitskene selbst bei den größten Konkurrentinnen eine äußerst geschätzte Sportlerin. „Es war eine große Ehre für mich, im selben Wettbewerb zu sein wie Mariya und zu sehen, wie sie nach all den Jahren die olympische Goldmedaille gewinnt“, sagte Nicola McDermott nach dem Finale in Tokio. Dass sie knapp geschlagen wurde, konnte die Australierin verkraften: „Ich dachte mir nach dem Warmmachen, dass ich Bestleistung springen könnte und wusste, dass ich da draußen singen und mit all diesen Frauen, die mich so inspirieren, einfach Spaß haben kann.“ Für U20-Weltrekordlerin Yaroslava Mahuchikh ist ihre russische Konkurrentin sogar noch immer das große sportliche Vorbild.

Mutige Worte gegen russische Sportfunktionäre

Seit nunmehr sechs Jahren ist der russische Leichtathletik-Verband von internationalen Wettkämpfen ausgeschlossen. „Das hat viele Karrieren zerstört, teilweise auch meine“, sagt Mariya Lasitskene, die seit dem 17. März 2017 mit dem litauischen Sportjournalisten Vladas Lasitskas verheiratet ist. In den vergangenen Jahren meldete sich die Hochspringerin häufiger zu Wort, wenn es um die Verstöße gegen Anti-Doping-Richtlinien im russischen Sport und speziell der Leichtathletik geht.

„Ich hoffe, dass die Leute, die an dieser nicht enden wollenden Schande beteiligt sind, den Mut haben zu gehen“, erklärte sie 2019. Es ginge ihr ausdrücklich auch um die aktuellen Trainer. „Die sind sich noch immer sicher, dass man ohne Doping nicht gewinnen kann. Sie sind längst überfällig für den Ruhestand. Eine neue Generation unserer Athleten muss mit einer anderen Philosophie aufwachsen. Und für jeden Athleten ist es der Trainer, der das vermittelt.“

Wobei wir bei der zentralen Figur in der Karriere von Mariya Lasitskene wären: Gennadiy Gabrilyan. Ihren langjährigen Trainer lernte sie im Alter von sieben Jahren als Grundschullehrer in der Kleinstadt Prochladny im Nordkaukasus kennen. Er bemerkte schnell, dass Mariya „Macha“ Kuchina ganz besonders begabt war. Sie probierte als Schülerin fast alle Leichtathletik-Disziplinen aus – auch Speerwurf und Kugelstoßen. Doch die schlanke wie auch bewegliche und schnelle Athletin fand ihre Berufung im Hochsprung. „Mariya hat einen goldenen Charakter und bringt alle Eigenschaften mit, um erfolgreich zu sein“, so ihr langjähriger Trainer.

Schon 20 Jahre an der Seite von Gennadiy Gabrilya

Gennadiy Gabrilyan betreute sie zehn Jahre lang bis zum Sieg bei den Olympischen Jugendspielen 2010 in Singapur. Anschließend schloss sie sich der bekannten Trainingsgruppe von Boris Gorkov in Wolgograd an, der schon Athen-Olympiasiegerin Jelena Slesarenko trainiert hatte. Doch als die Leistungen stagnierten und sie die Olympischen Spiele in London verpasste, kehrte Mariya Lasitskene zu Gennadiy Gabrilyan zurück. Er trainiert sie noch heute in ihrer Heimatstadt, gelegen zwischen dem Kaspischen und dem Schwarzen Meer, etwa 1.400 Kilometer südöstlich von Moskau.

Der ehemalige Grundschullehrer hat für seine Meisterschülerin ein ganz eigenes Trainingskonzept entwickelt. „Ich folge meinem System schon seit vielen Jahren. Wenn wir über das Erlernen neuer technischer Bewegungen sprechen, versuche ich, alle notwendigen Informationen in das Unterbewusstsein der Sportler zu bringen, ohne ihr Bewusstsein zu nutzen“, so Gennadiy Gabrilyan in einem Artikel bei European Athletics.

Sein Credo lautet: Je mehr sich ein Mensch anstrengt, desto geringer ist seine Leistungsfähigkeit. „Ich verbiete Masha, auch nur an Bewegungen zu denken. Die alten Chinesen sagten: ,Ein entspannter Körper ist ein starker Körper.‘ Das ist kein Zufall“, erklärt Gennadiy Gabrilyan und nennt zur Veranschaulichung seiner Trainingsform ein Alltagsbeispiel: „Man kann einfach seine Hand heben, indem man eine bestimmte Anstrengung darauf verwendet und ein bewusstes Bewegungsmodell ausführt. Oder man kann sich einem imaginären Wind unterwerfen, indem man sich seine Hand wie eine Feder vorstellt. In diesem Fall wird die Handbewegung außerhalb des Bewusstseins ausgeführt. Diese Bewegung legt sich bei mehrmaliger Wiederholung im Gehirn ab. Das führt dazu, dass in einer Stresssituation, also bei Wettkämpfen, das Bewusstsein nicht zu einem hemmenden Faktor für einen Sportler wird.“

Im Training nicht höher als 1,85 Meter

Am Ende jeder Saison verordnet Gennadiy Gabrilyan seiner Athletin einen Monat absolute Entspannung „In dieser Zeit soll sie weder an das Training noch an mich denken, sondern sich nur um sich selbst kümmern, um ihre eigenen Angelegenheiten. Ich versuche sogar, sie zu dieser Zeit nicht anzurufen. Wenn wir uns dann wieder treffen, beginnt die Vorbereitungsarbeit“, erklärt er.

Im Gegensatz zu den meisten Top-Hochspringerinnen geht es für Mariya Lasitskene, die auf Nahrungsergänzungsmittel verzichtet und selbst nach harten Wettkämpfen keine Massage benötigt, im Training nicht um große Höhen. Bei 1,85 Metern ist in der Regel Schluss, was in etwa ihrer Einstiegshöhe bei wichtigen Wettbewerben entspricht. Zum Vergleich: Hochspringerinnen in ihrer Güteklasse springen auch schon mal im Training über 2,00 Meter oder dicht an diese Marke heran. „Darum zweifeln Mariya und ich vor jedem Wettkampf. Ich bin immer zuversichtlich, wenn ich ihre Sprünge sehe, aber gleichzeitig habe ich auch immer Angst“, sagt Gennadiy Gabrilyan.

Diese extremen Gefühle durchlebte Mariya Lasitskene am 7. August im olympischen Finale: „Man muss nervös sein. Es muss Angst sein, ich hatte tödliche Angst. Manchmal habe ich gezittert, manchmal hatte ich das Gefühl, dass mir die Arme abfallen, und dann hat sich mein Kopf gedreht. Es war ein echter Horror. Aber vielleicht wurden mir all diese Herausforderungen auferlegt, damit ich sie überwinden konnte.“ Sie tat es. Und landete in Tokio bei ihrer ersten und vielleicht einzigen Chance im Hochsprung-Olymp.

Mehr:

Das komplette Hochsprung-Finale von Tokio im Video

Teilen
#TrueAthletes – TrueTalk

Hier finden Sie alle Folgen des Podcasts des Deutschen Leichtathletik-Verbandes!

Zum Podcast
Jetzt Downloaden
DM-Tickets 2024