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Tobias Potye – Vom Gefühl des Fliegens und dem Kampf mit dem Knie

Einige junge Aufsteigerinnen und Aufsteiger, ein Außenseiter, aber auch Athletinnen und Athleten, die schon seit Jahren zur DLV-Spitze zählen, haben bei den Deutschen Meisterschaften in Braunschweig im zurückliegenden Sommer ihren ersten Titel auf nationaler Ebene gewonnen. Wir stellen sie vor, heute Hochspringer Tobias Potye (LG Stadtwerke München).
Jan-Henner Reitze

Tobias Potye
LG Stadtwerke München

Bestleistung:

Hochsprung: 2,27 m (2018)

Erfolge:

Vierter Hallen-EM 2021
Achter U23-EM 2015
U20-Europameister 2013
Deutscher Meister 2021

Für Tobias Potye war es ein widersprüchliches Jahr, das auch sinnbildlich für die Gesamtsituation seiner Karriere steht. Sein Potential blitzt regelmäßig auf, voll ausschöpfen konnte es der 25-Jährige bisher aber noch nicht. Training, Alltag und die damit einhergehenden Belastungen für Körper und Geist haben noch nicht das ideale Gleichgewicht gefunden.

Obwohl 2021 Knieschmerzen und eine Corona-Infektion an manchem Morgen den Sprung über eine Hochsprunglatte wie eine Mars-Mission erschienen ließen, gehören zur Jahresbilanz auch die bisher beste Karriere-Platzierung bei einer großen Meisterschaft als Vierter der Hallen-EM in Torun (Polen), die Einstellung der Freiluft-Bestleistung von 2,27 Metern sowie der unter schwierigen Umständen erreichte erste deutsche Meistertitel. Diese Momente halten den Glauben an noch höhere Sprünge aufrecht.

Ein neues Rehatraining fürs Knie und die bevorstehende Heim-EM vor der Haustür in München sind Argumente dafür, dass der sprichwörtliche Knoten endlich platzt. „Ich spüre, dass noch mehr in mir steckt, und das möchte ich auch zeigen“, sagt der Hochspringer.

U20-EM-Titel ebnet Weg in den Leistungssport

In seinen bayrischen Heimatverein, den FC Aschheim, folgte Tobias Potye seinem älteren Bruder. „In der Grundschule hatte ich schon einmal Leichtathletik gemacht, dann aber andere Sportarten“, erzählt der heutige Leistungssportler. „Als ich in der fünften oder sechsten Klasse war, haben mich meine Eltern dann mit meinem Bruder wieder ins Training geschickt. Das hat mir Spaß gemacht und es stellte sich heraus, dass ich Talent habe.“

Seine besonderen Fähigkeiten zeigten sich unter Trainer Manfred Knopp von Anfang an im Hochsprung. In der M14 übersprang er im Jahr 2009 beispielsweise 1,79 Meter und reihte sich in den Top Ten der DLV-Bestenliste dieser Altersklasse ein, 2010 ging es schon über 1,91 Meter. Im zweiten U18-Jahr gelangen die ersten Flüge über 2,00 Meter und mehr sowie mit Silber bei der Jugend-DM die erste Medaille auf nationaler Ebene. Dass der Sport aber einmal mehr als ein Hobby und gar zum Beruf werden könnte, hatte der Jugendliche damals noch nicht im Kopf.

Das änderte sich 2013 schlagartig, als sich der damals 18-Jährige bei der U20-EM in Rieti (Italien) erstmals so richtig in einen Höhenrausch sprang und mit der Steigerung auf 2,20 Meter den Titel holte. Diese Leistung bestätigte der U20-Europameister wenig später bei der Jugend-DM in Rostock mit 2,18 Metern. Mit der Steigerung auf 2,23 Meter und Rang neun bei der U20-WM in Eugene (USA) verlief auch das folgende Jahr vielversprechend. „Nach dem Abitur wollte ich mit dem Sport weitermachen, in dem ich schon erfolgreich war und der mir obendrein Spaß gemacht hat“, erzählt der 1,97 Meter große Athlet.

Wechsel nach München und erster Einsatz in der A-Nationalmannschaft

Unter anderem die damit verbundene Aussicht auf ein Zimmer im Studentenwohnheim im Olympiapark, wo viele weitere Leistungssportler leben, erleichterte die Auswahl der LMU München als Studienort. „Den ersten Teil meines Bachelor-Studiums Kunst und Multimedia habe ich schnell durchgezogen, den Bachelor dieses Jahr abgeschlossen. Mit Informatik habe ich im vergangenen Winter gleich das nächste Studium aufgenommen“, berichtet Tobias Potye, der sich außer in den Sport auch in andere Dinge vertiefen kann. Ein ausschließlich sportlicher Alltag reicht ihm nicht aus. Das Studium steht aber hinten an.

Mit dem Umzug nach München waren auch ein Vereins- und etwas später Trainerwechsel zur LG Stadtwerke München und Sebastian Kneifel verbunden. In der U23-Klasse ging es nach vorn, aber auch verletzungsbedingt nicht so weit wie erhofft: Drei Vize-Titel auf nationaler Ebene, die Ränge acht und zehn bei den U23-Europameisterschaften 2015 und 2017 sowie die Steigerung der Bestleistung auf 2,25 Meter waren noch nicht der erhoffte Durchbruch in die Weltklasse. Muskelverletzungen, Wadenprobleme oder eine Leistenzerrung bremsten die Entwicklung aus.

2018 verlief das Training endlich mehr nach Plan und prompt folgten stabile Höhen um 2,25 Meter, die Steigerung der Bestleistung auf 2,27 Meter sowie mit der Qualifikation für die EM in Berlin der erste Start in der A-Nationalmannschaft. Die Aufnahme in die Sportfördergruppe der Bundeswehr ermöglichte es, den Sport noch professioneller auszuüben. Den Schwung dieses Jahr konnte das Duo aber nicht aufrechterhalten. Eine Entzündung der Patellasehne, die sich als chronisch herausstellte, machte 2019 Wettkämpfe gänzlich unmöglich. Bis heute ist das Knie eine Baustelle.

Verhexte 2,20 Meter sind bei der DM diesmal genug für den Titel

Als etwa im vergangenen Winter nach einem überraschend guten Saisoneinstieg inklusive Hallen-Bestleistung von 2,26 Metern auch wegen eines lang erwarteten Umzugs und Uniprüfungen Stress aufkam, war es das Knie, das sich mit starken Schmerzen meldete. Und das ausgerechnet kurz vor der Hallen-DM. Zwei Wochen danach bei der Hallen-EM konnte der 26-Jährige dann soweit über den Schmerz gehen, dass er seine 2,26 Meter bestätigte, den vierten Platz erreichte und wieder Spaß am Springen hatte.

Auf diesen Lichtblick folgte aber gleich wieder ein Tiefschlag. Wie einige weitere Athleten brachte Tobias Potye eine Corona-Infektion aus Torun mit. „Das war für das Training ein Rückschlag. Für mein Knie war es fatal. Wenn es nicht bewegt wird, werden die Schmerzen nur noch schlimmer.“ In den ersten Wettkämpfen des Sommers gingen nur 2,00 Meter beziehungsweise 2,05 Meter in die Ergebnisliste ein. Das zehrte am Selbstvertrauen. Olympia war in weiter Ferne.

Da war es schon ein Sieg, dass bei der DM in Braunschweig 2,20 Meter liegen blieben. „Diese Höhe bin ich bei den Deutschen schon oft gesprungen und war nie damit zufrieden. Es war immer ein bisschen wie verhext mit der DM. Diesmal steckt eine andere Geschichte hinter dieser Höhe und ich freue mich über meinen ersten Titel. Ich möchte bei einer DM aber auch noch deutlich höher springen“, sagt der Münchner. Seine anhaltenden Knieschmerzen für einen Tag überwinden, konnte er anschießend beim Meeting in Sinn, wo 2,27 Meter kein Problem waren und für 2,30 Meter nur das passende Timing fehlte. So keimte sogar noch einmal die Hoffnung auf, sich doch noch im letzten Moment für Olympia in Tokio (Japan) zu qualifizieren. Diese Hoffnung erfüllte sich aber nicht. 

Knees over Toes

Einen Weg weisen, mit der immer wieder schmerzenden Patellasehne auszukommen, soll US-Coach Ben Patrick, der auf diese Knieprobleme spezialisiert und auf Instagram als kneesovertoesguy unterwegs ist. „Es gibt leider nicht den einen Trainingsplan, den ich abarbeiten kann, um die Probleme loszuwerden. Ich muss die Übungen finden, die mir gut tun und einen ganz individuellen Weg finden. Zwischendurch kann es trotzdem wieder mal schlechter gehen und da ist es schwer, nicht ungeduldig zu werden und den Glauben an diesen Ansatz zu behalten“, erzählt der Sportsoldat.

Wie sich sein Knie anfühlt, protokolliert er derzeit ausführlich in einer Tabelle an der Wand seines Wohnungsflurs. Auf einer Schmerzskala von eins bis zehn hält er fest, wie sich sein Knie nach dem Aufstehen und im Training anfühlt. Vom Schmerzwert sieben bis acht im August hat er sich inzwischen bei etwa drei eingependelt. „Das ist natürlich alles subjektives Empfinden, auf der anderen Seite habe ich etwas Schwarz auf Weiß vor mir.“

In München das Stadion zum Beben bringen

Komplett weggehen werden die Schmerzen wohl nicht. Die Ärzte versichern aber, dass nichts großartig kaputt gehen könne. Im Wettkampf hat der Hochspringer vor allem im Sommer in Sinn, aber auch bei der DM in Braunschweig in einen Modus gefunden, in dem er wieder frei von Gedanken an sein Knie agieren konnte. Um mit der Situation besser klarzukommen, hat er sich auch Unterstützung von Balian Buschbaum geholt. Immer neue Kraft zieht der 26-Jährige zudem aus dem Zuspruch seines Trainers, seines Teams, seiner Framilie und Freunde.

Die wenn auch zuletzt raren Momente, in denen im Wettkampf ein Gefühl vom Fliegen aufkam, halten die Faszination am Hochsprung und die Leidenschaft daran lebendig. „Es macht in dem Moment, wo es klappt, einfach mega Bock.“ Mit der EM in München im kommenden Jahr steht außerdem ein Großereignis an, „das mir fast noch wichtiger ist als Tokio. Ich gehe davon aus, dass Zuschauer erlaubt sein werden und der Laden bebt.“

Video: Tobias Potye schnappt sich den ersten Hochsprung-Titel
Video-Interview: Tobias Potye: "Das war nicht ohne heute"

Das sagt Bundestrainer Hans-Jörg Thomaskamp:

„Tobi hat auch in diesem Jahr einerseits eine hohe Leistungsfähigkeit gezeigt, anderseits wird er von Kniebeschwerden geplagt. In Torun hätte er auch eine Medaille machen können. Gefehlt hat das letzte Quäntchen an Selbstbewusstsein, was mit der Kniesituation zusammenhängt. Wenn Schmerzen ein großes Thema sind, fehlt in einer Situation wie in Torun, als es um Bronze ging, das letzte Körnchen, um über sich hinauszuwachsen. Das ist kein Vorwurf, sondern ein natürlicher Schutzreflex. Diesen zu überwinden ist schwierig. Auch im Sommer hat er aus den schwierigen Umständen viel herausgeholt.

Das alles unterstreicht, dass Tobi eine der großen Hoffnungen ist. Ich halte ihn für sehr leistungsfähig und hoffe, dass wir Richtung Paris und darüber hinaus einen weiteren Sprung in die Weltklasse von ihm sehen werden. Das Potenzial ist auf jeden Fall da. Er bringt sehr günstige Körpermaße für den Hochsprung mit. Das Verhältnis von Größe und Gewicht stimmt, das Sprungmuster steht auf einer guten Grundlage. Außerdem ist Tobi ein hochintelligenter Kerl, der im technischen Bereich komplexe koordinative Aufgaben umsetzen kann und damit ein guter Partner für jeden Trainer ist. Wenn er sich dazu entschließt, an sich zu glauben, ist er auch ein guter Wettkämpfer. Dieses Selbstbewusstsein muss unterstützt und geweckt werden.

Es gilt, seine Belastungsverträglichkeit zu verbessern, damit mehr Trainingssprünge möglich sind. Sein hoch reaktiver Fuß würde es auch erlauben, höhere Geschwindigkeiten in Höhe umzusetzen. Diese müsste aber auch das Knie erlauben. Was den Umgang mit dieser Problematik angeht, muss ein langfristiges Therapie-Konzept etabliert werden, an das der Athlet glaubt. Ich bin überzeugt, das wird gelingen.“

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