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Olympic Moments 2021: Britischer Silberglanz – Laura Muir & Co. auf den Spuren von Kelly Holmes

Zahlreiche internationale Leichtathletik-Asse haben bei den Olympischen Spielen in Tokio (Japan) für Gänsehautmomente gesorgt. Wir blicken zurück auf herausragende Leistungen, erzählen außergewöhnliche Geschichten und stellen beeindruckende Persönlichkeiten vor. Heute im Fokus: Großbritanniens Mittelstreckenläuferinnen um Laufstar Laura Muir, Jemma Reekie und Keely Hodgkinson, die in Tokio mit zwei olympischen Silbermedaillen und weiteren Finalplatzierungen durchstarteten. Und sich damit anschicken, das Erbe von Doppel-Olympiasiegerin Kelly Holmes anzutreten.
Svenja Sapper

Es war eine große Karriere, die Trainer Andy Young seinem Schützling prophezeite. Er betreue die nächste Paula Radcliffe und Kelly Holmes in einer Person, ließ der Schotte im Januar 2013 einen Freund wissen. „Man nehme die Ausdauer von Paula Radcliffe und den Speed von Kelly Holmes – aber ohne die Verletzungen“, schrieb der Coach damals in einer Textnachricht. Große Fußstapfen für eine noch sehr junge Sportlerin.

Denn die Athletin, die Young mit Holmes, zweifache Olympiasiegerin von 2004 (800 und 1.500 m), und der langjährigen Marathon-Weltrekordlerin Radcliffe verglich, war erst 19 Jahre alt und hatte zum damaligen Zeitpunkt bis auf eine Teilnahme bei der U20-WM 2012 in Barcelona (Spanien; Platz 16 über 3.000 m) noch keine internationalen Erfolge vorzuweisen: Laura Muir.

Sternstunden der Britinnen

Acht Jahre später, am 6. August 2021, erlebt Andy Young im Olympiastadion von Tokio (Japan) die Sternstunde seiner Trainerlaufbahn. Im schnellsten olympischen 1.500-Meter-Finale der Geschichte – Siegerin Faith Kipyegon aus Kenia läuft in 3:53,11 Minuten olympischen Rekord – hält Laura Muir Weltmeisterin Sifan Hassan (Niederlande) in Schach und gewinnt Silber in britischer Rekordzeit von 3:54,50 Minuten.

Nach Luft ringend liegt sie nach dem Rennen auf der Laufbahn, Freudentränen in den Augen, die Hände vors Gesicht geschlagen. Trotz zahlreicher internationaler Medaillen, die sie bereits gewonnen hat – das ist der Moment, in dem sie das Versprechen ihres Trainers erfüllt. Denn wie hätte eine Läuferin ohne globales Freiluft-Edelmetall dem Vergleich mit zwei Mittel- und Langstreckenlegenden standhalten können? Keine britische Mittelstrecklerin hatte es seit Holmes' goldenem Doppelschlag von Athen (Griechenland) auf ein olympisches Podest geschafft.

Dabei ist dieses Silber für Laura Muir nicht einmal die erste Sternstunde der britischen Läuferinnen in Tokio. Denn drei Tage zuvor hat die 19-jährige Keely Hodgkinson über 800 Meter Silber gewonnen, in 1:55,88 Minuten den 26 Jahre alten Landesrekord von keiner Geringeren als Kelly Holmes ausgelöscht – und damit ihrerseits Anspruch auf deren Nachfolge angemeldet. Auch eine Athletin von Andy Young lief in ihrem ersten Finale herausragend: Jemma Reekie, Trainingspartnerin von Muir, verpasste in Bestzeit (1:56,90 min) Bronze nur um wenige Hundertstel – Großbritannien im Mittelstrecken-Glück. Mit Alexandra Bell erreichte beim Sieg der US-Amerikanerin Athing Mu noch eine dritte Britin das Finale; sie belegte Rang sieben.

Laura Muir: Die Vorreiterin

Den Grundstein für den britischen Erfolg in Tokio hat Laura Muir gelegt, mit insgesamt fünf EM-Titeln in der Halle und im Freien neben Sifan Hassan Europas erfolgreichste Mittelstrecklerin der vergangenen Jahre. Und doch bestritt sie in Tokio ein Finale gegen die Angst. „Ich glaube nicht, dass ich jemals für ein paar Sekunden so viel Angst gehabt habe“, resümiert die 28-Jährige bei Yahoo Sports. „Ich dachte nur: Lauf, so schnell du kannst! Und wenn ich danach nie wieder einen Schritt gehen kann – diese Ziellinie muss ich so schnell wie möglich erreichen.“ Häufig war Muir in den vergangenen Jahren als eine der Führenden auf die Zielgerade eingebogen. Und immer wieder war ihr die schon sicher geglaubte Medaille doch noch entrissen worden.

Im Sommer 2016 hatte die damals 23 Jahre alte Läuferin den britischen 1.500-Meter-Rekord von Kelly Holmes (3:57,90 min) auf 3:57,49 Minuten verbessert und ging wenige Wochen später als Zweite der Weltjahresbestenliste bei den Olympischen Spielen 2016 in das 1.500-Meter-Finale. In Rio (Brasilien) gab sie das Tempo vor, führte lange das Feld an – doch auf der Schlussrunde brach die Läuferin ein, fiel auf Rang sieben zurück und vergoss im Ziel Tränen der Enttäuschung. „Ich wusste, dass diesmal wieder Tränen fließen würden“, sagte Laura Muir nach dem Finale von Tokio, „und ich bin so glücklich, dass es diesmal Freudentränen sind!“ Elf Tage nach dem Finale in Rio triumphierte sie beim Diamond-League-Meeting in Paris (Frankreich) mit Landesrekord (3:55,22 min) über die Medaillengewinnerinnen der Spiele.

Neben der Saison 2016 spiegelt auch 2017 das ständige Auf und Ab in Muirs Karriere wider: Die Saison begann vielversprechend mit Hallen-Europarekord über 3.000 Meter in Karlsruhe und zwei Goldmedaillen (1.500 und 3.000 m) bei der Hallen-EM in Belgrad (Serbien). Der World Athletics-Präsident und zweimalige 1.500-Meter-Olympiasieger Sebastian Coe und Kelly Holmes, die ihrer designierten Nachfolgerin nach jedem Sieg eine Textnachricht schreibt, erklärten sie daraufhin prompt zur Goldfavoritin für die WM in London. Doch mit sieben Hundertstel Rückstand auf 1.500-Meter-Bronze und Rang sechs über 5.000 Meter hatte Muir auch vor Heimpublikum einmal mehr das Nachsehen.

Zwischen Licht und Schatten

Nach Niederlagen wird die Läuferin häufig für ihre zumeist offensive Renntaktik kritisiert. „Es entspricht meiner Mentalität, auf Sieg zu laufen“, verteidigt sich Muir in der Zeitung „The Standard“. „Ich möchte nicht, dass am Ende der Gedanke an das ‚Was wäre, wenn?‘ bleibt.“ Den Siegeswillen hat ihr Trainer Andy Young mitgegeben. Denn das Laufen war für die heutige 1.500-Meter-Europameisterin lange Zeit nur eines von vielen Hobbys. Mit elf oder zwölf Jahren absolvierte sie die ersten Crossläufe für ihre Schule im schottischen Kinross. Gleichzeitig fuhr sie Kajak, betrieb Sportklettern, Wildwasser-Rafting und arbeitete auf den schwarzen Gürtel in Karate hin.

Erst ab 2011, als sie in Glasgow mit dem Tiermedizin-Studium begann und sich dort Youngs Laufgruppe anschloss, fokussierte sich die talentierte Mittelstrecklerin auf die Leichtathletik. „Andy hat mir beigebracht, mich zu pushen“, erzählt Muir dem schottischen Leichtathletikverband. „Er hat mir immer und immer wieder gesagt: ‚Du kannst schneller laufen.‘ Und selbst im Training Zeiten vorgegeben, die ich erreichen sollte.“ Parallel dazu setzte Muir ihr Studium (mit Pausen) fort und holte zwischen ihren Wettkämpfen Lämmer auf die Welt, pflegte Pferde oder arbeitete in einer Tierschutzorganisation. 2018 schloss sie das Studium erfolgreich ab.

Mittlerweile sind Trainer und Athletin ein eingespieltes Team. „Wir wissen, was wir uns von einem Rennen erhoffen“, meint Muir in der schottischen Zeitung „The Courier“. „Sobald ich durchs Ziel laufe, weiß ich, was Andy denkt, noch bevor ich mit ihm spreche. […] Er ist ziemlich zurückhaltend und zeigt seine Gefühle nicht so oft – wenn ich nach einem Rennen eine Umarmung bekomme, weiß ich, dass ich es gut gemacht habe!“

Jemma Reekie: Die Nachfolgerin

Ein weiterer Schützling Youngs hat sich mittlerweile an der Seite von Laura Muir in die Weltspitze vorgearbeitet: Jemma Reekie, die in Tokio trotz Bestzeit und Platz vier über 800 Meter neben den beiden strahlenden Silbermedaillengewinnerinnen nur eine Nebenrolle spielte. Mit Gold über 800 und 1.500 Meter bei den U23-Europameisterschaften machte sie 2019 zunächst auf sich aufmerksam, bevor sie im Corona-Jahr 2020 mit Siegen auf großer Bühne, wie etwa bei den Diamond-League-Meetings in Stockholm (Schweden) und Rom (Italien), durchstartete.

Die Corona-Pandemie hat die beiden Mittelstrecklerinnen noch enger zusammengeschweißt. Um trotz Lockdown weiterhin gemeinsam trainieren zu können, zog Reekie Anfang 2020 mitsamt Hund Dolly kurzerhand bei ihrer Trainingskollegin ein. Mittlerweile hat sich die Wohngemeinschaft zwar aufgelöst. Doch nach wie vor profitieren beide vom gemeinsamen Training. „Wir freuen uns jedes Mal aufrichtig füreinander, wenn eine von uns gut läuft. Mehr Athleten müssen so sein wie Laura“, meint Reekie zum schottischen Leichtathletikverband.

Beide Athletinnen verbindet ihre Vielseitigkeit: Während Reekie bei den U20-Europameisterschaften 2017 noch auf 1.500 und 3.000 Meter setzte, bevorzugt sie mittlerweile mit den 800 Metern meist die kürzeste Mittelstreckendistanz. Laura Muir, die zweimal in Folge bei Hallen-Europameisterschaften das Double über 1.500 und 3.000 Metern holte, kann auch über 5.000 Meter eine Bestzeit von 14:52,07 Minuten vorweisen – und bewältigte unterm Hallendach auch die 400 Meter in 55,71 Sekunden. „Wenn es eine Art Lauf-Mehrkampf gäbe, wäre ich mittendrin“, scherzte sie bereits 2014 in der Tageszeitung „The Scotsman“.

Kontinuierliche Entwicklung

Reekie indes hat neun Jahre auf ihren Start in Tokio hingearbeitet. Die Olympischen Spiele in London 2012 waren es, die sie inspirierten, den Weg als Leistungssportlerin einzuschlagen. „London waren die ersten Spiele, an die ich mich erinnern kann. Ich trug die olympische Fackel, nachdem meine Tante mich dafür vorgeschlagen hatte. Als mir gesagt wurde, dass ich das machen darf, stand in dem Brief: ‚Das ist dein erster Schritt, um selbst Olympionikin zu werden‘, erinnert sich die heute 23-Jährige auf olympics.com. Drei Jahre später schloss sie sich im Alter von 17 Jahren der Trainingsgruppe um Andy Young an.

„Viele fragten mich, ob ich mit einem Leichtathletik-Stipendium auf ein College in Amerika gehen würde. Aber sobald ich die ersten Trainingseinheiten mit Andys Gruppe absolviert hatte, wollte ich diese Chance nutzen, obwohl ich das Gefühl hatte, dass ich zu langsam für sie war“, meint Reekie. Doch schnell entwickelte sich das Nachwuchstalent zu einer der besten europäischen Mittelstrecklerinnen ihres Alters – unter den wachsamen Augen von Andy Young und auch von Laura Muir, die als Mentorin für ihre junge Trainingskameradin fungierte.

Jemma Reekie erinnert sich an ihre erste internationale Meisterschaft, die U20-EM 2017 in Grosseto (Italien), als sie über 3.000 Meter mit Rang vier eine Enttäuschung hinnehmen musste. „Ich war schlecht gelaufen und habe sofort Laura angerufen. Sie war auf dem Weg ins Höhentrainingslager, aber ich wusste, dass sie sofort abnehmen und mit mir über das Rennen sprechen würde“, berichtet sie. Einen Tag später gewann Reekie Gold über 1.500 Meter. Und hat nun auch bei den Aktiven den Sprung in die Weltspitze geschafft.

Keely Hodgkinson: Die Raketenstarterin

Das ist der Dritten und Jüngsten im Bunde innerhalb kürzester Zeit gelungen: Keely Hodginson, Olympia-Zweite und neue britische Rekordlerin über 800 Meter. Eine Athletin, die vor dem aktuellen Jahr wohl nur Insidern ein Begriff gewesen sein dürfte. Binnen zwei Jahren hat sie ihre persönliche Bestleistung um fast acht Sekunden gesteigert. Dabei sah es wenige Jahre zuvor noch so aus, als würde Hodgkinson nie wieder schnell laufen können.

Denn in ihren frühen Teenagerjahren wurde bei Hodgkinson ein Tumor am Ohr diagnostiziert, der entfernt werden musste. Bis heute ist die Mittelstrecklerin auf einem Ohr zu 95 Prozent taub – ein Umstand, der ihr während der Corona-Pandemie besonders zu schaffen macht, da sie durch die Mund-Nasen-Maske große Probleme hat, ihre Mitmenschen zu verstehen. Allen Prognosen zum Trotz erholte sie sich jedoch schnell, fand den Weg zurück in den Sport und gewann 2018 Gold über 800 Meter bei den U18-Europameisterschaften in Györ (Ungarn). Ein Jahr später folgte Bronze bei den U20-Europameisterschaften in Borås (Schweden).

Von null auf hundert

Von U18-EM-Gold 2018 zu Olympia-Silber in nur drei Jahren: Hodgkinson, die bereits in der Hallensaison mit EM-Gold in Torun (Polen) durchstartete, hat ihren größten Erfolg ohne monetäre Unterstützung des britischen Leichtathletikverbandes erreicht. Denn 2020 nahm British Athletics aufgrund der Pandemie keinerlei neue Athletinnen und Athleten in die Fördergruppe auf.

Die 19-Jährige, die im Kindesalter auf Anraten ihres Vaters vom Schwimmen zur Leichtathletik wechselte (ihre Vorbilder sind Basketballer Michael Jordan und der britische Wasserspringer Tom Daley), ist jedoch in guten Händen: In ihrer Heimatstadt Wigan (nahe Manchester) wird sie von der früheren WM-Dritten über 800 Meter Jenny Meadows und deren Ehemann Trevor Painter betreut. In Leeds, wo sie Kriminologie studiert, überwacht mit der einstigen Hallen-Europameisterin über 3.000 Meter Helen Clitheroe ebenfalls eine erfahrene Athletin das Training.

„Ich habe mich einfach geweigert, es nicht aufs Podium zu schaffen“, erzählt die 19-Jährige Athletics Weekly. „Ich bin mit der Einstellung ins Finale gegangen, dass ich eine Medaille gewinnen kann und nur sicherstellen muss, dass mein Körper es auch abruft.“ Im Rahmen der Olympischen Spiele sprach sie auch erstmals mit Kelly Holmes: „Sie hat während der Spiele mit uns allen gesprochen und uns kleine Weisheiten mit auf den Weg gegeben. Sie schien ziemlich glücklich, dass ihr Rekord jetzt Geschichte ist. Es war an der Zeit, dass er gebrochen wird. Es ist eine Ehre, dass ich das geschafft habe und dass wir auch noch die gleichen Initialen haben: KH.“

(Mindestens) drei für die Zukunft

Und auch Hodgkinsons eigener, neuer Rekord könnte nicht allzu lange Bestand haben. Denn immerhin war Kelly Holmes bei ihrem größten Erfolg bereits 34 Jahre alt. Ihre Nachfolgerin auf dem olympischen 800-Meter-Podest ist 15 Jahre jünger und eine der schnellsten Läuferinnen, die es in ihrer Altersklasse je gegeben hat: Nur die Olympiasiegerin von 2008, Pamela Jelimo aus Kenia, Athing Mu, 800-Meter-Siegerin in Tokio, und Caster Semenya (Südafrika), Gewinnerin in London und Rio, waren in der U20 je schneller.

In Großbritanniens ewiger Bestenliste über diese Strecke haben sich Muir (1:56,73 min) und Reekie direkt hinter Hodgkinson und Kelly Holmes eingereiht. Und sie sind nicht die Einzigen, die weitere Kapitel der neuen britischen Erfolgsgeschichte in den Mittelstreckendisziplinen schreiben wollen: Denn der Silberglanz von Tokio ist sicherlich auch Ansporn für andere Athletinnen wie die Olympia-Siebte Alexandra Bell oder die U23-Europameisterin über 800 Meter Isabelle Boffey, an den Erfolg in den kommenden Jahren anzuknüpfen. Laura Muir beispielsweise hat eine WM-Medaille in Eugene (USA) fest im Blick.

Mehr:

Das 1.500-Meter-Finale von Tokio im Video
Das 800-Meter-Finale von Tokio im Video

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