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Comeback nach vier Jahren: Gisèle Wender über 400 Meter Hürden schnell wie nie

Bei den Deutschen Meisterschaften überraschte sie als Zweitplatzierte über 400 Meter Hürden mit EM-Norm. Die Wenigsten dürften sie für eine derartige Leistung auf der Rechnung gehabt haben. Und das, obwohl Gisèle Wender keine Unbekannte ist in der Leichtathletik. Noch 2018 galt sie als großes Nachwuchstalent, holte unter anderem Gold bei der U18-EM. Doch warum war es in den vergangenen Jahren so still um sie?
Jane Sichting

Vier Jahre ist es her, da feierte Gisèle Wender (SV Preußen Berlin) ihre bislang größten Erfolge in der Leichtathletik. Mit der Bronzemedaille bei der U18-WM in Nairobi (Kenia) sowie dem überraschenden Titelgewinn bei den U18-Europameisterschaften in Györ (Ungarn) – noch kurz zuvor hatte sie sich schwer am Oberschenkelansatz verletzt – galt sie als größtes deutsches Talent über 400 Meter Hürden. Zudem belegte sie im selben Jahr Rang sieben bei den Youth Olympic Games (YOG) in Buenos Aires (Argentinien) und wurde in ihrer Heimatstadt Berlin als „Nachwuchssportlerin des Jahres“ ausgezeichnet.

Mit den internationalen Starts und Erfolgen einhergehend musste Gisèle Wender aber auch feststellen, dass der Sport auf diesem Niveau sehr viel Zeit in Anspruch nimmt – damals befand sie sich mitten im Abitur. „Ich habe dann entschieden, mich erst einmal auf die Schule und noch ein paar Dinge im Privaten zu konzentrieren“, sagt sie rückblickend. Um den Bezug zum Sport nicht ganz zu verlieren, hat sie parallel Traineraufgaben fortgeführt und sagt: „Ich wollte einfach weg von der Dauerbelastung.“

Vereinswechsel, Rückkehr ins Training und fulminantes Comeback

Mit der Zeit habe sie dann aber gemerkt, dass ihr etwas fehlt und dass sie die Bewegung braucht, erklärt die heute 21-Jährige rückblickend. Doch: An Leistungssport war aufgrund einiger Verletzungen vorerst nicht wieder zu denken. Somit ließ sie es langsam angehen, kurierte Verletzungen in Ruhe aus und begann damit, die Intensität allmählich zu steigern.

Darüber hinaus wechselte Gisèle Wender 2020 den Verein, verließ den SV Bau-Union Berlin und trainierte fortan mit und bei Max Schnicke: „Ich bin damals als Trainerin schon zum SV Preußen Berlin gewechselt. Und da das Leistungsniveau in der Gruppe stärker war als in meinem alten Verein und ich gern wieder anfangen wollte, auch selbst zu trainieren, hat das gut gepasst, beides parallel zu machen.“ Jetzt bildet sie mit Max Schnicke ein Trainer-Duo – während er die Pläne schreibt, habe sie als Teil der Trainingsgruppe noch einmal den Blick von innen und ein gutes Gefühl für die Belastungssteuerung.

Knapp drei Jahre sollte es dauern, bis sich die Hürdenläuferin wieder fit fühlte und im Wettkampfgeschehen angreifen konnte. Und dies tat sie in beeindruckender Manier! Bereits bei den Meisterschaften von Berlin-Brandenburg 2022 steigerte sich Gisèle Wender Mitte Juni auf 57,64 Sekunden und ließ die Konkurrenz klar hinter sich – wenngleich „in dem Rennen noch nicht alles so rund lief“.

Leistungsexplosion bei der DM in Berlin

Wozu die 21-Jährige wirklich fähig ist, präsentierte sie zwei Wochen später auf großer Bühne. Bei den Deutschen Meisterschaften im Olympiastadion Berlin nutzte sie ihr Heimspiel und pulverisierte ihre Bestzeit auf starke 55,84 Sekunden (zum Video). Das war nicht nur knapp zwei Sekunden schneller als zuvor – eine Welt über die Stadionrunde mit zehn Hürden! – sondern bedeutete auch EM-Norm.

„Damit hatte ich absolut nicht gerechnet“, kann sie es noch heute kaum glauben. Und versucht, es sich mit einer Mischung aus perfekten Rahmenbedingungen und ihrer Spurtstärke zu erklären. „Allein bei den Deutschen Meisterschaften der Erwachsenen zu starten war für mich ein großer Auftritt. Im Olympiastadion zu laufen war pure Emotion, und ich habe mich einfach sehr auf das Rennen gefreut und dass ich dort mitlaufen durfte“, erzählt sie. All das „Drumherum“ habe sie zusätzlich motiviert, so dass sie auf der Zielgeraden noch einmal erfolgreich ihre Stärke ausspielen konnte – hinten raus alles zu geben.

Dabei lief Gisèle Wender sogar noch an die spätere Siegerin, Olympia-Halbfinalistin Carolina Krafzik (VfL Sindelfingen), heran. „Das war mein erstes Rennen gegen Carolina. Aber ich habe mich sehr für sie gefreut und es ist super, dass wir nun beide die Norm haben. Ich hoffe, dass wir in Zukunft häufiger gegeneinander laufen können“, sagt die junge Herausforderin. Die nächste Möglichkeit dafür wird es wohl in München geben, bei der Heim-EM (15. bis 21. August – zum Ticket-Vorverkauf).

Einfach laufen und Spaß haben

Bis dahin spult die Studentin für Grundschullehramt an der Humboldt-Universität Berlin fleißig ihr Trainingspensum ab, etwa fünf Einheiten in der Woche sowie donnerstags den Uni-Kurs in Turnen, Schwimmen und Leichtathletik. Zudem wartet in zwei Wochen mit der U23-DM in Bochum-Wattenscheid (23./24. Juli – zu sehen im Livestream auf leichtathletik.de) noch ein weiterer Höhepunkt im Wettkampfplan der Hürdenläuferin.

Unter Druck gesetzt fühlt sie sich als Deutsche Vizemeisterin 2022 allerdings nicht: „Ich gehe die U23-Meisterschaften ganz entspannt an. Das Faszinierende an den 400 Meter Hürden ist ja ohnehin, dass alles passieren kann und es jedes Mal ein neues Rennen ist. Daher heißt es für mich einfach laufen und Spaß haben.“

Rückhalt von der Familie gibt ihr Kraft

Genau diese Einstellung könnte ihr Erfolgsgeheimnis sein. Denn auch im Alltag hält sie Stress von sich fern und freut sich vielmehr, dass gerade „alles super“ ist und nicht zu viel. Die Doppelbelastung aus Uni und Sport sei gut aufeinander abzustimmen und lasse sogar noch Raum für Freizeit. „In den letzten Jahren habe ich gemerkt, dass ich meine Auszeiten brauche und es für mich wichtig ist, den Kopf auch einmal frei zu bekommen“, sagt sie.

Wenngleich ihr Fokus in der laufenden Saison nicht zuletzt aufgrund ihrer guten Form und ihrer starken Leistungen vermehrt auf dem Sport liegt, zeigt sich Gisèle Wender im Studium nicht weniger engagiert und arbeitet auch hier zielorientiert und emsig: „Dass das trotz des großen Aufwandes als Leistungssportlerin so gut funktioniert, dafür bin ich sehr dankbar.“

Gleichermaßen wie auch für die familiäre Unterstützung: Bereits im Alter von drei Jahren war sie über den Eltern-Kind-Sport überhaupt zur Leichtathletik gekommen. Und noch heute spielen ihre Eltern eine große Rolle für sie und ihre sportliche Karriere: „Sie halten mir immer den Rücken frei und unterstützen mich, wo sie können.“

Entscheidend ist die Einstellung im Kopf

Nach der U18-EM, -WM und den YOG vor vier Jahren wäre der EM-Start in München für Gisèle Wender zwar nicht der erste Auftritt im Nationaltrikot, aber der erste für das deutsche Nationalteam bei den Erwachsenen. Und dies sei, obwohl sie bereits Erfahrungen mit den Abläufen bei internationalen Meisterschaften habe, für sie "emotional noch einmal etwas ganz Anderes“.

Gelassen bleibt die ausgeglichene und für ihr noch immer junges Alter sehr souverän wirkende Athletin dennoch: „Vom Mentalen her weiß ich ganz gut, wie ich mit Anspannung und Druck umgehen kann, sodass ich den Wettkampf auch entspannt und vor allem mit Spaß laufen kann.“ Und den könne ihr nicht einmal Regenwetter nehmen: „Ich versuche einfach immer, das Beste draus zu machen. Entscheidend ist die Einstellung im Kopf. Und wenn man Lust hat, zu laufen, ist alles andere nebensächlich.“

Mehr:

Im Video: Carolina Krafzik und Gisèle Wender knacken EM-Norm

EM 2022 München

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