Adam Gemili - Sprinter auf der Überholspur
2. Juni 2012, Regensburg, 100 Meter: Die Zuschauer reiben sich verwundert die Augen, als ein 18-jähriger Nachwuchsathlet aus Großbritannien in 10,08 Sekunden fast die gesamte deutsche Sprintelite hinter sich lässt. Vier Monate später ist Adam Gemili die größte britische Hoffnung auf eine 100-Meter-Medaille bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio (Brasilien).
Fast ist in Vergessenheit geraten, dass Adam Gemili bereits 2011 in Deutschland zu Gast war: Als Teil der britischen Nationalmannschaft startete er bei der Junioren-Gala in Mannheim. Damals wurde er in 10,41 Sekunden Zweiter über 100 Meter – nicht schlecht, aber auch kein Grund zum Ausflippen.Die Reise ging weiter zu den U20-Europameisterschaften nach Tallinn (Estland). In 10,49 Sekunden gewann Adam Gemili sein Halbfinale. Im Finale wurde er in 10,41 Sekunden hinter dem überragenden Franzosen Jimmy Vicaut (10,07 sec) Zweiter. Anschließend sagte der Brite in einem Video-Interview verschmitzt: „Langsam fange ich wirklich an, Leidenschaft für die Leichtathletik zu entwickeln.“
Vom Fußball zum Sprint
Denn bis dahin hatten ihm seine Leidenschaft und sein Training für den Fußball die Erfolge auf der Laufbahn beschert. Der Sohn eines Marokkaners und einer Iranerin besuchte die Jugendakademie des FC Chelsea in London. Der Durchbruch ins Profigeschäft ließ jedoch auf sich warten. Zuletzt spielte Adam Gemili für den Thurrock FC in der sechsten Liga.
Tommy South, Vorsitzender des Clubs, beschreibt im Fußball-Magazin 11Freunde die Stärken des Fußballers Adam Gemili: „Er legte den Ball am Gegenspieler vorbei und rannte hinterher. Ihn umzutreten, war der einzige Weg, ihn zu stoppen.“
Die Karriere des Leichtathleten Adam Gemili begann im Oktober 2011, als er sich im Olympiastützpunkt Lee Valley im Norden Londons der Trainingsgruppe von Michael Afilaka anschloss. Auch Jeanette Kwakye, 2008 Olympia-Siebte über 100 Meter, gehört dieser Gruppe an. Im Januar diesen Jahres tauschte Adam Gemili die Fußball-Schuhe schließlich komplett gegen die Spikes ein.
Rasanter Aufstieg
Die Erfolge ließen nicht lange auf sich warten. In Regensburg pulverisierte er in seinem dritten Saisonrennen seine Bestleistung und schob sich damit in den Kreis der Favoriten für die U20-WM in Barcelona (Spanien).
Dort wurde er dieser Rolle eindrucksvoll gerecht: Mit neuem Meisterschaftsrekord und britischem U20-Rekord von 10,05 Sekunden rannte er der gleichaltrigen Konkurrenz auf und davon. Nur sechs Nachwuchsathleten waren jemals schneller als Adam Gemili. Weltrekordler Usain Bolt (Jamaika) gehört nicht dazu.
„Adam war nach dem Finale ein emotionales Wrack“, sagte sein Coach Michael Afilaka und gab damit eindrucksvoll Einblick in das Seelenleben des Shooting-Stars. „Je höher die Intensität eines Wettkampfs ist, umso mehr wird den Athleten emotional abverlangt“, erklärte er und fügte hinzu: „Adam ist nicht nur jung, er ist auch noch neu in der Sportart.“
Bonus Olympia
Die Entscheidung, anschließend auch die Olympischen Spiele zu bestreiten, war für den zurückhaltenden Coach und seinen Athleten kein Selbstläufer: „Wenn man ihn in den olympischen Hexenkessel schmeißt und er sich dabei verbrennt, kann es passieren, dass er sich nie wieder erholt“, warnte Michael Afilaka.
Schließlich stand Adam Gemili im Olympiastadion seiner Heimatstadt doch an der Startlinie. Und verpasste als Halbfinal-Dritter in 10,06 Sekunden nur um vier Hundertstel den Einzug ins olympische Finale. „Das war die beste Erfahrung meines Lebens!“ sagte er rückblickend. „Hinter Tyson Gay und Yohan Blake Dritter im Halbfinale zu werden, ist ein Anfang.“
Medaillenhoffnung für Rio
Ein Anfang, der in seinen Landsleuten große Erwartungen geweckt hat. Adam Gemili ist nun Teil des britischen Top-Teams für den nächsten Olympiazyklus und damit in die höchste Förderstufe des Verbands aufgestiegen. Neben den 100 Metern will er in Rio auch die 200 Meter bestreiten. Hier hat er sich Anfang September auf 20,38 Sekunden gesteigert – in seiner Altersklasse Platz zwei der Welt.
Zuletzt hatte der U20-Weltmeister, der am 6. Oktober seinen 19. Geburtstag gefeiert hat, angekündigt, er wolle über 100 Meter so bald wie möglich die Zehn-Sekunden-Marke knacken. Der jüngste Athlet, dem dies gelang, war im Alter von 19 Jahren und 143 Tagen der Jamaikaner Yohan Blake.
Fußballkarriere beendet?
Kritiker treten auf die Euphorie-Bremse und verweisen auf andere britische Sprint-Talente, die nie olympische Einzelmedaillen gewannen. Christian Malcolm zum Beispiel, U20-Weltmeister von 1998, Mark Lewis-Francis, der U20-Europameister von 1999, oder Harry Aikines-Aryeety, der 2005 in Marrakesch (Marokko) über 100 und 200 Meter U18-Weltmeister wurde. Keiner von ihnen war allerdings als Jugendlicher so schnell wie Adam Gemili – nach nur einem halben Jahr ernsthaftem Training.
Und was ist mit der Karriere im Fußball? Adam Gemili hatte im vergangenen Winter gemeinsam mit seinen Eltern beschlossen, es ein Jahr lang mit der Leichtathletik zu versuchen. Hätte das nicht geklappt, wäre er zum Fußball zurückgegangen. Nach seinem Jahr auf der Überholspur sind die Chancen nun relativ gering, dass Adam Gemili die Fußballschuhe wieder aus dem Schrank holt.