Äthiopierinnen laufen für sozialen Aufstieg
Wann haben Sie sich zuletzt die Ergebnisse von internationalen Meisterschaften angeschaut und haben auf der Langstrecke der Frauen nicht mindestens eine Äthiopierin auf den Medaillenrängen gesehen? Die Läuferinnen aus dem ostafrikanischen Staat bestimmen zur Zeit wie keine andere Nation die Strecken von 3.000 bis 10.000 Meter bei den Frauen.
Tirunesh Dibaba gehört zur Zeit zu den erfolgreichsten Läuferinnen (Foto: Kiefner)
Besonders beeindruckend zeigte sich die Dominanz bei den Weltmeisterschaften in Helsinki (Finnland). Dort heimsten die Läuferinnen um die Dibaba-Schwestern alle Medaillen über 5.000 und 10.000 Meter ein und belegten zudem über die kürzere Strecke auch noch den vierten Platz. Und auch wenn – wie zuletzt bei der Cross-WM in Fukuoka (Japan) Tirunesh Dibaba über die kurze Strecke – eine der ganz großen Gold-Hoffnungen ausfällt, steht sofort die nächste Athletin parat und springt in die Presche. Namen wie Tirunesh und Ejegayehu Dibaba, Berhane Adere, Meseret Defar, Derartu Tulu, Meselech Melkamu und Werknesh Kidane stehen für den Erfolg des afrikanischen Staates.
Laufen hat in Äthiopien eine lange Tradition. "Es besteht dort einfach viel mehr die Notwendigkeit zu laufen, das ist dort das alltägliche Fortbewegungsmittel. Viele Äthiopier können sich nicht den Bus leisten", sagt Volker Wagner, seit 2000 Manager von Berhane Adere, 10.000-Meter-Weltmeisterin 2003.
Großer Einfluss durch den Verband
Er hat in der Vergangenheit auch mit anderen äthiopischen Läuferinnen zusammengearbeitet, war davon aber nicht unbedingt immer begeistert. "Eine Frau zählt in Äthiopien nicht besonders viel. Die Frauen dort sind sehr unterwürfig und ergeben." Dies machte ihm die Arbeit nicht immer leicht.
Volker Wagner versuchte, die Läuferinnen in deutschen Wettkämpfen unterzubringen, was aber nicht allzu einfach ist, da viele deutsche Veranstalter gerne Kenianer verpflichten. "Gleichzeitig haben die Betreuer vor Ort sie über andere Manager, zum Beispiel in Frankreich, laufen lassen. Die Läuferinnen machen das, was die Betreuer ihnen sagen."
Generell haben nach seiner Ansicht die Betreuer, Trainer und vor allem der Verband einen extrem großen Einfluss auf die Läuferinnen und deren Karriere. "Das ist schon fast ein totalitäres Regime. Dort entscheidet der Verband, wer starten darf und wer nicht." Wer den Offiziellen nicht passt, habe keine Chance. Folglich machen die Läuferinnen, was von ihnen gefordert wird.
Sozialer Aufstieg und Reichtum
Trotz allem wählen viele Äthiopierinnen den Weg auf die Stadionbahn. "In Äthiopien lebt etwa die Hälfte der Einwohner an der Grenze des Existenzminimums. Laufen ist eine Möglichkeit des sozialen Aufstiegs." Erfolgreiche Läufer – Männer wie Frauen – werden in Äthiopien gefeiert wie Stars. Sozialer Aufstieg und Anerkennung gehen einher.
"Eine Magd verdient in Äthiopien vier Euro im Monat", berichtet Volker Wagner. Und Frauen verdienen noch weniger als Männer. Mit Laufen können sie ein Vielfaches verdienen, die Motivation ist folglich hoch.
Doch auch wenn Frauen als Stars gefeiert werden, sind sie erst einmal verheiratet, gehören sie und alles, was sie verdienen, ihrem Ehemann. "Derartu Tulus Mann hat das von ihr verdiente Geld auf die Seite gebracht, hat es angelegt in Immobilien und anderem und hat sich dann eine andere Frau genommen", erzählt Volker Wagner. Derartu Tulu war ihr Geld los.
Nur wenige Frauen gehen dagegen an. "Berhane Adere ist etwas anders. Sie sagt, was sie verdient hat, gehört auch ihr. Sie lässt sich nicht so einfach was vorschreiben, aber das hat sie auch zu einer Siegerpersönlichkeit gemacht." Sie sei jedoch eine Ausnahme.
Noch Potenzial
Auch wenn die Äthiopierinnen überall auf der Welt an den Start gehen, sind die meisten doch heimatverbunden geblieben. Andres als die Kenianer trainieren sie daheim im äthiopischen Hochland. Und auch wenn die Läuferinnen auf Kinder und Familie verzichten, ist Volker Wagner nicht der Meinung, dass sie dabei etwas aufgeben. "Die guten Athletinnen werden bei Polizei, Militär oder Gefängnissen angestellt. Sie geben nichts auf, sie werden gefördert."
Und noch einen anderen Unterschied gibt es zum Nachbarstaat und Läuferland Kenia. "Dort ist die Sichtung viel besser. Äthiopien hat mehr als doppelt so viele Einwohner, folglich haben sie ein viel größeres Reservoir an hochklassigen Läuferinnen, aber das schöpfen sie noch nicht aus."
Ein Problem dabei ist auch, dass im Gegensatz zu Kenia, wo Englisch eine der beiden Amtssprachen ist, die meisten Äthiopier kein Englisch sprechen. "Die Talentsichtung müsste aus dem Verband heraus kommen und auch nicht nur in Adis Abeba stattfinden." Würde man also auch diesen Punkt noch verbessern – die anderen Nationen hätten es in Zukunft noch schwerer, bei Großereignissen in die Medaillenränge zu laufen.