Paul Tergat hat Respekt vor Bong-ju Lee
Paul Tergat, der Welt schnellster Marathonläufer (2:04:55 h in Berlin 2003), ist in Klausur gegangen und hat sich im trauten Kämmerlein Gedanken gemacht, wer ihm in Athen gefährlich werden könnte. Bong-ju Lee, dem Mann aus Fernost, hat er die Rolle des Herausforderers in die Laufschuhe geschoben.
Paul Tergat hat sich einen Gegner ausgekuckt
"Der Kurs in Athen gleicht dem in Boston, und die äußeren Bedingungen, also Hitze, Luftfeuchtigkeit und das hügelige Profil, sind ähnlich", sagte der Kenianer, der in seiner Laufbahn fünf Mal in Serie Cross-Weltmeister war, obendrein Olympia-Zweiter und WM-Zweiter, jeweils über 10.000 Meter, "Bong-ju Lee, der schon in Boston gewonnen hat, könnte mein größter Gegner werden."Wer so klein ist wie Bong-ju Lee und noch dazu so leicht, dem mag der Gedanke nicht kommen, er habe Bärenkräfte. Mit 1,68 Meter Körpergröße und 56 Kilo Gewicht ist der 33-jährige Südkoreaner eher ein schmales Handtuch. Gleichwohl wäre es grob fahrlässig, ihn zu unterschätzen. Bong-ju Lee ist ein "street fighting man", ein Kämpfer auf hartem Asphalt, der in seiner Heimat so populär ist wie kein anderer Läufer.
Running Hero
Der "Running Hero", der von seinen Landsleuten wie ein Volksheld verehrt wird, lebt und trainiert in Seoul. Angefangen hat er einst als Sprinter, bevor er das Metier wechselte. Bong-ju Lee ist ein alter Fuchs. Was hat er nicht schon alles erlebt in seiner langen Karriere.
1996 in Atlanta war er Olympiazweiter (2:12:39 h) mit nur drei Sekunden Rückstand auf den Südafrikaner Josia Thugwane. 1998 wurde Lee Asienmeister. In Boston 2001, im 26. Marathon seiner Laufbahn, triumphierte er in 2:09:43 Stunden und erlebte den größten Zahltag in seinem Leben. Denn wie sagen die Amerikaner: Wer in Boston gewinnt, hat ausgesorgt.
Ein Frischling
Paul Tergat, mit gerade mal fünf Marathonläufen noch ein "Frischling" in der Szene, hat keine Angst vor seinem Rivalen, wohl aber jede Menge Respekt. Er weiß, dass ihn die Experten als hohen Favoriten handeln. "Kenia hat die besten Marathonläufer hervorgebracht, doch andererseits noch nie Gold geholt bei Olympischen Spielen", gab er zu bedenken, "und der Marathon in Athen wird auch im Kopf entschieden." Nur wer mental stark sei und bis zum Schluss kühle Nerven bewahre, habe eine Chance.
Paul Tergat tut alles für den Erfolg, Bong-ju Lee aber auch. Nach der WM in Paris, wo er Elfter war in 2:10:38 Stunden, hat Bong-ju Lee einen Zwischenstopp eingelegt in Athen und sich die olympische Strecke angeschaut. "Sehr, sehr schwer", so sein erster Einruck, "da sind mehr Hügel als in Boston." Wie Paul Tergat ist auch er der Meinung, dass man sich mental auf diese harte Ausdauerprüfung einstellen müsse. Denn: "Das ist der Schlüssel zum Erfolg."
Vorbereitungen laufen
Die Olympia-Vorbereitungen laufen bereits auf vollen Touren. Bong-ju Lee schwört auf Höhentraining. In Kunming, der Hauptstadt der chinesischen Provinz Yunnan, hat er in den vergangenen Wochen fleißig unzählige Kilometer gesammelt. Kunming liegt auf dem fast 2000 Meter hohen Ost-Yunnan-Plateau. Dort herrschen das ganze Jahr über milde Temperaturen, so dass Kunming auch als "Stadt des ewigen Frühlings" bezeichnet wird.
Die nächste Trainingsphase folgt daheim in Kangwon Do im Nordosten von Südkorea, in einer der am wenigsten besiedelten Provinzen des Landes. Die sehr bergige Region bietet zahlreiche Möglichkeiten, um gezielt den Olympia-Kurs zu imitieren. Bong-ju Lee, ein Energiebündel, will nichts dem Zufall überlassen, so dass Paul Tergat schon Recht hat, wenn er ihn als einen seiner schärfsten Rivalen bezeichnet.