| Neues Jahr, neues Glück

Anna Rüh und das verflixte Jahr 2016

„Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen“ – Murphys Gesetz ist bekanntlich kein guter Begleiter. Im Rückspiegel ein verpasstes Olympia und das Gefühl, dass vieles hätte anders laufen können. Bei einem Mittagessen verrät uns Diskuswerferin Anna Rüh wie es war, sich mit dem Schicksal zu duellieren, und wie dagegen 2017 aussehen kann. Die erste Bewährungsprobe steht schon am Samstag bei der Hallen-DM mit der Kugel auf dem Programm.
Varg Königsmark

Magdeburg an einem Donnerstagmittag. Der Ulrichplatz im Zentrum der Stadt ist sonnenüberflutet und lockt mit seinen Geschäften allmählich die ersten Mittagspausierenden an.  Für Anna Rüh sind es bei einer Portion Pasta die wertvollen Stunden zwischen zwei wichtigen Trainingseinheiten. „Business as usual“ also? Nicht ganz.

Bei den Landesmeisterschaften Ende Januar in Halle/Saale wartete bereits eine erste Standortbestimmung auf die 23-jährige Diskuswerferin vom SC Magdeburg. 58,24 Meter waren ihrer Meinung nach keine beeindruckende, aber eine zufriedenstellende Überprüfung ihrer Form. „Es war das erste Mal, dass wir den Umsprung im Wettkampf getestet haben. Dafür geht die Weite in Ordnung“, lautet ihr Fazit nach einer Technik-Umstellung bei der Schwerpunkt-Verlagerung in der Hauptbeschleunigungsphase. Etwas defensiver fällt dagegen der Rückblick auf das Ergebnis im Kugelstoßen aus: „16,34 Meter sind nicht das, was ich kann! Da muss noch etwas passieren bis zu den Deutschen Meisterschaften.“

Diese finden am kommenden Wochenende (18./19. Februar) in Leipzig statt, und wie im vergangenen Jahr ist Anna Rüh auch dieses Mal mit der Kugel am Start. „Danach bekommen wir erstmal eine Woche Urlaub“, schmunzelt sie und fügt hinzu: „Wenn du so oft mit den gleichen Dingen und den gleichen Menschen zu tun hast, bist du froh, wenn du mal etwas abschalten kannst.“

Krafttraining stärker in den Fokus gerückt

Verständlich, denn der gemeine Lagerkoller macht auch nicht vor dem selbsterkorenen Wohnzimmer der deutschen Werfer Halt, dem Bundesleistungszentrum Kienbaum. Dort haben die Wurf-Asse in der laufenden Vorbereitung bereits einige Wochen an Technik, Fitness und Kraft gefeilt. Und im Hinblick auf die WM in London (Großbritannien; 4. bis 13. August) wird das Stunden-Konto in Kienbaum wohl noch um die ein oder andere Woche erhöht.

„Früher haben wir die Kraft- und Wurfeinheiten an einem Tag durchgezogen, heute lassen wir uns da etwas mehr Zeit und konzentrieren uns am Tag jeweils auf einen der Bereiche“, erklärt Anna Rüh. Mit „früher“ meint sie die Zeit an ihrer alten Wirkungsstätte Neubrandenburg unter Trainer Dieter Kollark und mit Trainingspartnerin Claudine Vita. Dort habe sie eine „sehr gute“ Technikschule genossen. Dieses große Plus könne sie nun in Magdeburg für sich nutzen. Denn in ihrer neuen Trainingsgruppe konzentriert sie sich stärker auf das Kraft- und Fitnesstraining.

Pechsträhne startet in Wiesbaden

Dass dieser Weg sich als richtig herauskristallisieren könnte, zeigte sich zu Beginn der vergangenen Saison. „Wenn nicht du, wer dann?“ fielen zugleich Frage und indirekte Antwort ihres Trainers Armin Lemme aus. „Das war Ende April im Trainingslager in Belek. Ich hatte mich noch nie so fit gefühlt, und es war das erste Mal, dass sich unsere Umstellung des Trainings als richtig angedeutet hat“, erinnert sich Anna Rüh. Was dann allerdings geschah, hätte Edward A. Murphy als Feldbeobachtung seines Gesetzes „Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen“ nicht besser dienen können.

Aber eines nach dem anderen. Den Anfang  der Pechsträhne von Anna Rüh macht eine akute Rückenblockade kurz vor dem Einstiegswettkampf in Wiesbaden. Man erinnere sich an dieser Stelle an Robert Hartings morgendliches Erwachen am Tag des Wettkampfes in Rio. Dort hatte ihm ein Hexenschuss einen Strich durch seine Olympia-Ambitionen gemacht. Die Rotationsbewegung im Diskuswurf – unter diesen Umständen schwer vorstellbar. Doch – wie Robert Harting – stellt sich auch Anna Rüh der Konkurrenz und lässt die Scheibe auf 63,42 Meter segeln. Immer noch eine Weltklasse-Weite und Beleg einer vielversprechenden Form.

Unklare Diagnose kostet wertvolle Zeit

Zu ihrem Verhängnis entpuppt sich die Rückenblockade in den Tagen nach dem Wettkampf allerdings lediglich als stellvertretendes Symptom. Blutwerte deuten auf eine Entzündung der Magenschleimhaut hin, ganz sicher sind sich die Ärzte  jedoch nicht. „Als hätte ich ein Loch im Bauch“, sagt Anna Rüh, so habe es sich angefühlt. Die Unklarheit über die Diagnose kostet wertvolle Zeit. Zeit, in der sich die deutsche Konkurrenz um die späteren Olympia-Starterinnen Julia Fischer, Nadine Müller und Shanice Craft zu weiteren Qualifikationswettkämpfen aufmacht. Meilensteine auf dem Weg nach Rio. „Das war sehr ärgerlich, da hat die medizinische Abteilung leider zu spät reagiert.“

Bis heute bleibt unklar, welcher Natur die Beschwerden von Anna Rüh wirklich waren. Besserung brachte am Ende ein homöopathisches Mittel. Doch um das Aufholen ihres Trainingsrückstandes musste sie sich selbst kümmern. „Sechs Wochen hat das gedauert“, blickt Anna Rüh zurück.

Es wird knapp mit der Olympia-Qualifikation. Denn sich der nationalen Konkurrenz zu stellen, ohne voll im Saft zu stehen, ist ein schwieriges bis gar unmögliches Unterfangen. „Du hast in Deutschland immer die Möglichkeit, national leer auszugehen, obwohl du dich auf einem Niveau befindest, das dir eine internationale Top-Platzierung bescheren kann.“ Die Schattenseite dieser sich selbst befruchtenden Konkurrenzsituation: Es gibt lediglich drei Startplätze.

Deutsche Meisterschaften laufen an ihr vorbei

Bei den Deutschen Meisterschaften in Kassel sei dann alles völlig an ihr vorbei gelaufen. Wie ferngesteuert sei sie sich vorgekommen, unfähig, den Interventionen ihres Trainers Armin Lemme  Folge zu leisten. „‘Stell nach links um‘, hat er mir immer wieder zugerufen. Aber was bringt das, wenn du in deinem Kopf von einem ganz anderen Plan überzeugt bist?“ lautet ihr selbstkritisches Urteil. Als der letzte Diskus im Gras des Kasseler Auestadion landet, muss sich die U23-Vize-Europameisterin von 2015 mit dem vierten Platz zufrieden geben. Die EM in Amsterdam (Niederlande) findet ohne sie statt.

Das Tor zu den Olympischen Spielen hat sich allerdings noch nicht komplett geschlossen. Ein bisschen Zeit bleibt, um die zweite Olympiateilnahme zu erkämpfen. Doch auch hier ist Murphy wieder mit von der Partie. Bei einem Besuch der Eltern in Greifswald macht Anna Rüh in der Nacht auf der Ausziehcouch eine Bewegung, die weitreichendere Folgen haben sollte, als einen unruhigen Schlaf. Der Fingernagel des kleinen Fingers der Wurfhand hat sich fast gänzlich vom Nagelbett gelöst.

„Ich war geschockt, ging in das Zimmer meiner Eltern und sagte ihnen: ‚Ich glaube, wir müssen in die Notaufnahme‘!“ Sie zeigt auf die Stelle, an der der Nagel schließlich wieder angenäht werden musste, damit er in seiner ursprünglichen Form nachwächst, und muss dabei selbst kurz lachen. „Eigentlich unmöglich“, dieser Zwischenfall. Aber er reiht sich perfekt ein in Murphys Sammlung aus dem Jahr 2016. Kurze Zeit später muss Anna Rüh die Saison beenden, die so vielversprechend begonnen hatte.

Ideen abseits des Ringes

Was die Magdeburgerin aktuell neben ihrem Training noch umtreibt, hat seinen Schauplatz etwas abseits der Diskus- und Kugelstoß-Ringe und spielt sich eher in gut beheizten Büros ab. „Ich mache mir gerade viele Gedanken über Marketing und Sponsoring innerhalb der Leichtathletik. Da könnte noch vieles besser laufen“, sagt Anna Rüh, die als Sportsoldatin Mitglied der Sportfördergruppe der Bundeswehr ist und zudem eine Ausbildung als Kauffrau für Bürokommunikation abgeschlossen hat.

Der Stellenwert des Leistungssportes in der Bevölkerung, aber auch innerhalb der Wirtschaft, wird dieser Tage oft in Frage gestellt.  Ex-Schwimmer Markus Deibler verglich die Entlohnung eines deutschen Olympiasiegers mit dem Preisgeld, das der Fernsehsender RTL dem „Dschungelkönig“ zahlt. 150.000 Euro gebe es für einen Sieg im Dschungelcamp, 20.000 Euro Prämie erhalten Sportler von der deutschen Sporthilfe für den Gewinn einer olympischen Goldmedaille. Diese Ungleichheit wird zurzeit von vielen Sportlern kritisiert und wirft die Frage auf, wie viel der Leistungssport der deutschen Öffentlichkeit tatsächlich wert ist.

Anna Rüh sagt: „Mir fallen viele Ideen im Bereich des Marketings ein“. Da wir gerade in einem Lokal einer italienischen Restaurantkette sitzen, kommt eine dieser Ideen spontan auf: „Nehmen wir zum Beispiel dieses Restaurant. Ernährung spielt eine wichtige Rolle im Leistungssport. Wir könnten hier also interaktive Kochabende veranstalten und als Austauschmaßnahme den ein oder anderen Mitarbeiter auf unsere Kosten in eines unserer Trainingslager einladen.“

Sorge um die Außendarstellung ihrer Sportart

Während wir uns kurz in diese Idee hineindenken, macht Anna Rüh aber auch deutlich, dass das ja eigentlich nicht ihr Job sei. Dennoch bereite ihr der Status Quo der Außendarstellung einer dynamisch-visuell attraktiven Sportart wie der Leichtathletik Sorge.

„Schau dir Robert Harting an. Im Grunde ist es nicht mehr wichtig, wie weit er wirft. Am Anfang war es das natürlich, da waren seine Erfolge notwendig, um die Aufmerksamkeit der Leute zu erregen. Aber allmählich hat sich seine Position in der Sportlandschaft so gefestigt, dass jedem klar ist, was für ein Leben er führt. Und was es heißt, diesen Sport Tag für Tag zu betreiben“. Die Message: Sportlicher Erfolg mag die Eintrittskarte für eine adäquate Vermarktung sein, scheint aber längst nicht nur als einziges Kriterium dafür in Frage zu kommen.

2017 kann nur besser werden

Zum Ende des Gespräches – die Pasta verflüchtigt sich allmählich – bleibt nur noch eine Frage unbeantwortet. Die Frage, wie es für die U20-Weltmeisterin von 2012 weitergehen wird und was 2017 mit den Weltmeisterschaften in London für sie bereithalten könnte. Der Gedanke daran ruft bei Anna Rüh ein zuversichtliches Lächeln hervor. „An London habe ich noch sehr viele gute Erinnerungen“, sagt sie. In der britischen Hauptstadt konnte sie als 19-Jährige bereits Olympia-Luft schnuppern und sich 2012 als jüngste Teilnehmerin im Feld eine Top-Ten-Platzierung sichern.

Zusammen mit dem Vertrauen darauf, in Magdeburg auf einem guten Weg zu sein, blickt Anna Rüh positiv auf die kommende Saison. Vielleicht hält diese sogar schon einen  Start bei der Hallen-EM im serbischen Belgrad (3. bis 5. März) bereit – im Kugelstoßen. „Geplant ist das aber eigentlich nicht. Ich denke nur darüber nach, wenn ich die Norm stoße.“ Spätestens im Sommer will sie dann aber wieder international in Aktion treten, denn: „Schlimmer als im letzten Jahr kann es ja gar nicht laufen.“ Irgendwann wird auch Murphy als Fädenzieher langsam die Puste ausgehen. Dann bleibt es nur noch eine Frage der Zeit, bis der Diskus an Spin in Richtung London aufnimmt.

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