Kenenisa Bekele ist süchtig nach Siegen
Kenenisa Bekele, ein junger Bursche von gerade mal achtzehn Jahren, ist süchtig. Süchtig nach Siegen! Viele vergleichen ihn bereits mit Haile Gebrselassie, dem Wunderläufer. "Ich bin Hailes Nacholger", verkündete er nach seinem 10.000-Meter-Triumph im "Stade de France" von St. Denis, wo er heute auch im Finale über 5000 Meter sein Glück suchen wird, "das wird hart, doch ich versuch's." Und sein Ziel? "Wenn ich laufe, will ich auch gewinnen." Der eher zurückhaltende Äthiopier, der nur auf der Bahn alle Scheu ablegt, hat das Double vor Augen: Gold auf beiden Langstrecken, was noch keinem gelungen ist in der WM-Historie. Aber Vorsicht: Hicham El-Guerrouj, der viermalige Champion über 1500 Meter, hat ähnliche Absichten: WM-Gold über 1500 und 5000 Meter wäre ebenfalls eine Premiere.
In Dublin begann die Erfolgsgeschichte
Aber im unwegsamen Gelände düpierte der kleine David die Branche endgültig. In Dublin auf der Pferderennbahn "Leopardstown", Schauplatz der Cross-WM 2002, kämpfte er wie ein Löwe in freier Natur um seine Beute. Wild entschlossen schnappte er sich Gold erst auf der Mittel- und tags darauf auch auf der Langdistanz. So ein Double hatte es nie zuvor gegeben! Äthiopien jubilierte. Kenia, die Läufer-Nation Nummer eins, trug Trauer. "Dieser Junge", klagte Mike Koskei, Cheftrainer der kenianischen Auswahl, "war für uns zu stark."
Auch im März dieses Jahres in Avenches in der Schweiz holte er sich beide Titel im Gelände. Gnadenlos zerlegte Kenenisa Bekele seine Gegnerschaft. Wieder hatte er die stolzen Kenianer gedemütigt und dabei einen Mann wie Richard Limo, Weltmeister über 5000 Meter, geradezu vorgeführt. Haile Gebrselassie seinerseits hatte sechs Anläufe unternommen, dennoch blieb ihm stets das so heiß ersehnte Gold bei einer Cross-WM verwehrt.
Auf dem Land groß geworden
Wer ist dieser Bekele? Ein Mann zwischen den Welten in jedem Fall. Zwischen der Vergangenheit, die in Äthiopien liegt, wohin er immer wieder zurückkehren wird, weil hier seine Wurzeln liegen, und der Gegenwart in Holland, wo ihn der einstige Weltklasse-Läufer Jos Hermens betreut, der auch der Manager von Haile Gebreselassie ist.
In der südlich gelegenen Region Arsi, etwa 300 Kilometer von Addis Abeba entfernt, ist Kenenisa Bekele mit fünf Geschwistern aufgewachsen. Genau wie Haile Gebrselassie und Derartu Tulu, beide Doppel-Olympiasieger über 10.000 Meter. Dort wohnen seine Eltern auch heute noch. Sie leben wie 85 Prozent der Bevölkerung von der Landwirtschaft. Doch ihr Sohnemann, ein schmales Handtuch von 1,60 Meter Körpergröße und 54 Kilo Gewicht hat mit Ackerbau und Viehzucht nichts im Sinn. Tolossa Kotu, 1980 in Moskau Olympia-Vierter über 10.000 Meter, ist sein Entdecker. Kotu war früher ein Mitstreiter von Miruts Yifter, der in Moskau Gold über 5.000 und 10.000 Meter gewonnen hat, heute zählt er zum Trainerstab der "Ethiopian Athletic Federation", dem nationalen Leichtathletik-Verband, der in Addis Abeba seinen Sitz hat.
Der Körper streikt immer wieder
In die Drei-Millionen-Hauptstadt ist auch Kenenisa Bekele gezogen. Dort trainiert er unter Profi-Bedingungen, dreimal die Woche mit Haile Gebreselassie, ansonsten mit talentierten Nachwuchsläufern, unter anderem seinem jüngeren Bruder Tariku. "Kenenisa", prophezeit Haile Gebrselassie, "wird meine Weltrekorde über 5.000 und 10.000 Meter brechen und auch bei den Olympischen Spielen in Athen 2004 groß auftrumpfen." Wenn er gesund bleibt, ist ihm das durchaus zuzutrauen.
Aber gerade das war in der Vergangenheit sein großes Problem. 2000 erkrankte Kenenisa Bekele vor den Olympia-Trials. 2001 konnte er sich nicht für die WM in Edmonton qualifizieren, weil ihn Schmerzen im Unterleib ausbremsten. 2002 warfen ihn hartnäckige Achillessehnen- und Knieverletzungen bis in den November aus der Spur. Mit gerade mal 21 Jahren auf den schmalen Schultern ist der "Shooting-Star" sehr verletzungsanfällig.
El-Guerrouj will ebenfalls das Doppel
Aber momentan ist er prima in Schuss. Haile Gebrselassie, der auf die 5000 Meter freiwillig verzichtet hat, weil er beim sechsten und letzten Golden League-Meeting in Brüssel seinen eigenen 10.000-Meter-Weltrekord attackieren will, traut ihm einen weiteren Coup zu. Auch wenn Hicham El-Guerrouj dank seiner Spurtqualitäten ebenfalls gute Chancen eingeräumt werden. Nicht zu vergessen die beiden Kenianer, die gefrustet sind, weil sie bei dieser WM noch keinmal Gold gewonnen haben. Abraham Chebii ist der aussichtsreichste Kandidat, denn er hat in Rom beide geschlagen: Kenenisa Bekele und Haile Gebrselassie Richard Limo, der Titelverteidiger, der wie Bekele zur Hermens-Gruppe zählt, Eliud Kipchoge und John Kibowen sind auch nicht zu verachten.
Schade nur, dass Stephen Cherono alias Saif Saaeed Shaheen, der Weltjahresbeste über 5000 Meter mit 12:48,81 Minuten, nicht live dabei ist. Nach seinem irren Rennen über 28 Hindernisse und sieben Wassergräben, das er mit der Goldmedaille krönte, der ersten für Katar, seine neue Wahlheimat, wäre er bei diesem "Showdown" über 5000 Meter ein weiterer Spaßmacher gewesen. Aber auch ohne sein Mitwirken ist allerbeste Unterhaltung garantiert, zumal Kenenisa Bekele und Hicham El-Guerrouj, zwei der schnellsten Läufer der Gegenwart, erstmals aufeinander prallen.