Athletics Canada - Besinnung auf alte Stärken
Was haben der Kanadische und der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) gemeinsam? Für beide stand nach den Olympischen Spielen in Peking (China) der Gewinn einer Bronzemedaille zu Buche. Und beide blieben gerade in einstigen Paradedisziplinen hinter den Ergebnissen goldener Vorjahre zurück. leichtathletik.de hat die kanadische Leichtathletik einmal genauer unter die Lupe genommen und sich auf die Suche nach den aktuellen Hoffnungsträgern gemacht.
Noch gut in Erinnerung sind die Erfolge der kanadischen Sprinter, die nach dem Dopingskandal um Ben Johnson in den Neunziger Jahren den Ruf ihres Landes wieder rehabilitierten. Drei Weltmeistertitel und zweimal Olympia-Gold über 100 Meter und mit der 4x100-Meter-Staffel gingen allein auf das Konto von Donovan Bailey. In 9,84 Sekunden hielt er außerdem von 1997 bis 1999 den 100-Meter-Weltrekord.Ebenso schnell lief 1999 auch sein Landsmann und Staffel-Mitstreiter Bruny Surin, der als zweimaliger Hallen-Weltmeister zudem auf der kurzen 60 Meter-Strecke nur schwer zu bezwingen war. Die Staffel vervollständigten bei internationalen Meisterschaften Glenroy Gilbert und Robert Esmie. Das Bemerkenswerte daran: Keiner der vier Sprinter erblickte in Kanada das Licht der Welt.
Medaillengewinner mit Wurzeln im Ausland
Tatsächlich stellt sich bei genauerer Betrachtung heraus, dass ein Großteil der international erfolgreichen Kanadier aus Mittel- und Südamerika den Weg nach Nordamerika fand. Bruny Surins Wurzeln liegen in Haiti, die von Glenroy Gilbert in Trinidad & Tobago, und auch Mark McKoy, nach absolvierter Dopingsperre 1992 Olympiasieger über 110 Meter Hürden, wurde nicht in Kanada, sondern in Guyana geboren. Mark Boswell, 1999 Vize-Weltmeister im Hochsprung, stammt ebenso aus Jamaika wie Donovan Bailey und Robert Esmie.
Diese Feststellung mag nichts Neues sein. Kann sie erklären, warum bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften seit dem Ende der Neunziger Jahre kein kanadischer Sprinter mehr den Sprung aufs Treppchen geschafft hat? Zwar ist gerade der Sprinterinsel Jamaika mittlerweile daran gelegen, talentierte Athleten nicht mehr ans Ausland zu verlieren. Doch insgesamt ist die Zahl der Immigranten aus Süd- und Mittelamerika in Kanada nicht zurück gegangen, sondern sogar so hoch wie nie zuvor.
Leichtathletik wenig populär
Richten wir also den Blick auf die Sportlandschaft Kanadas. Schnell stellt sich heraus, dass die Leichtathletik hier nur eine untergeordnete Rolle spielt. Unter den zehn Sportarten, die am häufigsten betrieben werden, ist sie nicht zu finden. Die meisten der 32 Millionen kanadischen Einwohner widmen sich dem Golfspielen, Eishockey oder Schwimmen.
Hieraus ergeben sich auch die vergleichsweise geringen finanziellen Mittel des Kanadischen Leichtathletik-Verbands (Athletics Canada). Von Sport Canada, einem der zentralen Sportorgane Kanadas, erhielt Athletics Canada 2007/2008 beispielsweise einen niedrigeren Zuschuss als die Verbände im Rudern, Feldhockey, Kanu- und Bobfahren. „Consistency, Continuity and Cash“ - so fasst Les Grammantik, bis Dezember 2008 Cheftrainer der kanadischen Leichtathleten, die Mängel auf den Punkt zusammen.
Mehr Geld gleich neuer Cheftrainer
Gerade im finanziellen Bereich stehen nun Veränderungen an, die der kanadischen Leichtathletik wieder Aufwind verleihen sollen. 2005 wurde das Programm „Road to Excellence“ ins Leben gerufen, das zum Ziel hat, Kanada bei Olympischen Sommerspielen im Medaillenspiegel weiter vorne zu platzieren. In Peking wurde die angestrebte Position 16 aufgrund der geringen Anzahl an Olympiasiegen um drei Plätze verpasst, obwohl sechs Medaillen mehr mit nach Hause gebracht wurden als noch vier Jahre zuvor.
Für die Vorbereitung auf die nächsten Spiele erhalten die Sportverbände Kanadas jetzt erneut eine ordentliche Finanzspritze, von der auch Athletics Canada profitieren wird. Geschätzte eine Million Euro jährlich sollen in die Leichtathletik fließen - Geld genug, um Alex Gardiner als Cheftrainer in den Verband zurückzuholen. Dieser hatte diese Position schon Anfang der Neunziger Jahre sowie bei den Olympischen Spielen 2004 in Athen (Griechenland) inne gehabt und war bis zum Ende des vergangenen Jahres als Technischer Direktor beim Kanadischen Olympischen Komitee beschäftigt.
Alex Gardiner will einen Großteil der Ressourcen, die Athletics Canada zur Verfügung stehen, in das Training und die Trainerausbildung stecken. Sein Vorgänger Les Gramantik wird in Zukunft das neu geschaffene Leistungssport-Zentrum in Calgary leiten. Eine Konzentration auf alte Stärken wie den Sprint und die Hürdendisziplinen sowie die zuletzt vielversprechenden Wurf- und Mittelstreckenbereiche wurde angekündigt. „Es ist unmöglich, in allen Disziplinen international erfolgreich zu sein“, erklärt Les Gramantik und betont: „An Talenten fehlt es in Kanada nicht.“
Vielversprechende Ergebnisse in Peking
Tatsächlich ist es, wenn man genauer hinschaut und das einstige Steckenpferd, den Sprint der Männer, außen vor lässt, gar nicht so schlecht um die kanadische Leichtathletik bestellt. Die Hürdensprinterin Perdita Felicien zum Beispiel holte 2003 und 2004 die Weltmeistertitel im Freien und in der Halle. Starke nationale Konkurrenz hat die 28-Jährige in der zwei Jahre jüngeren Priscilla Lopes-Schliep. Mit dem Gewinn der Bronzemedaille bescherte diese ihrem Land im vergangenen Jahr das erste olympische Edelmetall in der Leichtathletik seit 1996.
Und diese Medaille hätte nicht die einzige bleiben müssen. Gary Reed, der 800-Meter-Vize-Weltmeister, war mit einem neuen kanadischen Rekord von 1:43,68 Minuten im Gepäck nach China gereist und verpasste als Vierter nur knapp das Podium. Ebenfalls um Haaresbreite schrammte Dylan Armstrong am Treppchen vorbei. Der Kugelstoßer verbesserte im Olympischen Finale den nationalen Rekord auf 21,04 Meter - mit einem Zentimeter mehr wäre er Dritter geworden. Für die Siebenkämpferin Jessica Zelinka bedeutete der neue Landeskord von 6.490 Punkten im Vogelnest Platz fünf.
Tyler Christopher blickt nach Berlin
Als einer der kanadischen Hoffnungsträger war auch der amtierende Hallen-Weltmeister über 400 Meter, Tyler Christopher, bei den Olympischen Spielen an den Start gegangen. Nachdem er 2005 im Alter von 21 Jahren WM-Bronze über diese Strecke geholt hatte, galt er lange als Kanadas größtes Nachwuchstalent. In Peking kam er jedoch aufgrund einer Erkältung nicht über den Vorlauf hinaus.
Zurzeit ist der mittlerweile 25-Jährige bei Hallen-Meetings in Europa unterwegs und nutzt die Wettkämpfe als Vorbereitung für die Weltmeisterschaften in Berlin, bei denen er seinen eigenen kanadischen Rekord von 44,44 Sekunden unterbieten will. Mit seinem neuen Chefcoach war er bereits in Kontakt: „Alex Gardiner ist ein guter Nachfolger, wir sind froh, ihn zu haben. Er betrachtet jeden Athleten, mit dem er arbeitet, als eigenes Projekt. Hoffentlich wird sich das in Zukunft positiv für uns auswirken.“
Der Nachwuchs steht bereit
Tyler Christopher weiß, was es bedeutet, als Athlet mit geringen finanziellen Mitteln auszukommen. Nachdem er sich für den Leistungssport entschieden hatte und zum intensiveren Training nach Edmonton gezogen war, konnte er anfangs kaum ausreichend Geld für Miete und Essen aufbringen. „In den ersten Jahren war es schwer. Dann kamen die Sponsoren, und auch Athletics Canada hat ausgeholfen. Seitdem ist es natürlich ein ganzes Stück leichter.“
Von den verbesserten Bedingungen sollen auch die nachrückenden Hoffnungsträger profitieren. Zu ihnen gehört unter anderem Tabia Charles. Die 23-Jährige verbesserte 2008 den Landesrekord im Weitsprung auf 6,82 Meter und hält mit 13,94 Metern auch die nationale Bestmarke im Dreisprung. Im Jugendbereich haben sich dagegen im vergangenen Jahr international keine Kanadier in den Vordergrund geschoben. Bei den U20-Weltmeisterschaften in Bydgoszcz (Polen) gab es für das 34-köpfige Nationalteam kein Edelmetall, beste Platzierung war Rang sechs für Tyler Daniel Harper über 400 Meter.
Und mit wem rechnet Tyler Christopher für die nahe Zukunft? „Jedes Jahr gibt es da wieder jemand Neues. Aber das stellt sich erst in der Freiluft-Saison heraus, das kann ich jetzt noch nicht einschätzen.“ Man darf also gespannt sein, ob bei den Weltmeisterschaften in Berlin neue kanadische Talente auf sich aufmerksam machen werden - es müssen ja nicht unbedingt die Sprinter sein.