Auf dem Fahrrad kämpft sich Julia Hütter zurück
Julia Hütter wollte zu den Olympischen Spielen nach Peking. Stattdessen hat die Stabhochspringerin vom LAZ Bruchköbel den Sommer nach einem Kreuzbandriss mit Streckschiene und Gradmesser verbracht. Für die WM 2009 in Berlin schuftet die Deutsche Hallenmeisterin von 2007 täglich beim Aufbautraining in der Reha und sagt: „Irgendwann muss man die Ereignisse einfach abhaken.“
Auf der Homepage von Julia Hütter (www.juliahuetter.de) gibt es ein Gästebuch. Bis zum 8. Juni 2008 haben es Besucher ihrer Seite vor allem dazu genutzt, um der 25-Jährigen in unregelmäßigen Abständen einen kleinen Gruß plus gelben Smiley zu hinterlassen. Doch die Bedeutung des Mitteilungsangebotes hat sich gewandelt. Nach ihrem schweren Unfall beim Leichtathletik-Meeting in Regensburg füllte sich das Gästebuch von Julia Hütter rasch mit Einträgen, in denen Bekannte und Freunde Anteil nahmen, Trost spendeten und neue Hoffnung gaben.„Wege verlaufen nicht immer gerade, manchmal sind sie auch sehr kurvenreich“, schrieb die frühere Sprinterin Gabi Becker, die bei der WM 1995 in Göteborg Bronze mit der 4x100-Meter-Staffel gewann und wie Julia Hütter für das LAZ Bruchköbel startete. Es war einer von vielen Versuchen, Julia Hütter neuen Mut zuzusprechen. „Ich war überrascht davon“, sagt die Stabhochspringerin heute. „Vom Europacup in Annecy bekam ich sogar eine Ansichtskarte vom Deutschen Leichtathletik-Verband. Das war alles unheimlich motivierend und hat mir sehr geholfen.“
Misslungener Sprung in Regensburg
Ein kurzer Rückblick: Beim zweiten Freiluftwettkampf der Saison in Regensburg landete Julia Hütter nach einem misslungenen Sprung unglücklich auf der Mattenschräge hinter dem Einstichkasten. „Schon der Einstich war grottenschlecht gewesen“, erinnert sie sich. „Ich weiß nicht, was mich geritten hat, den Stab im falschen Moment loszulassen. Das war ein Anfängerfehler.“ Ein Fehler, der bitter bestraft wurde.
Die Diagnose, die nach den Untersuchungen im Krankenhaus gestellt wurde, liest sich wie das Kapitel „Häufigste Sportverletzungen“ in einem Lehrbuch für Medizinstudenten: Kreuzband-, Innenband- und Patellasehnenriss im linken Knie, Knorpel- und Meniskusschaden sowie eine Fußgelenkverletzung mit doppeltem Außenbandriss.
Zwei Operationen am Knie
Bis zum Unfall hatte Julia Hütter eine Saisonbestleistung von 4,60 Metern in der Halle – die Olympischen Spiele waren ihr großes Ziel. Doch der Traum von Peking platzte im Einstichkasten von Regensburg. „Das war der schlimmste Moment meiner Karriere“, sagt sie, die sich aber noch am selben Abend in Regensburg mit ihrem Trainer Dr. Jakob Lötzbeyer zum Weitermachen entschied. Es war der Beginn eines langen Weges zurück. In Oberhausen wurde die Leichtathletin zum ersten Mal am Knie operiert, im Anschluss stellte eine Streckschiene das Bein sechs Wochen lang ruhig, dann kam die erste Rehaphase.
Mitte September folgte die zweite Operation – dabei wurden Vernarbungen und Verklebungen im Knie gelöst. „Es ist alles super verheilt, und ich bin auf einem guten Weg“, sagt Julia Hütter zufrieden. „Jetzt kann ich damit beginnen, das Knie zu beugen und die Muskulatur aufzubauen.“ Doch die Erfolge stellen sich nur langsam ein: 90 Grad Beugung sind bislang das Maximum, die Stabhochspringerin hat über zehn Kilogramm verloren und musste täglich mit ansehen „wie der Oberschenkel dünner und dünner wurde“.
Noch zehn Wochen in der Rehaklinik
Ausgerechnet in Donaustauf bei Regensburg schuftet Julia Hütter in der Rehabilitationsklinik „Eden Reha“ täglich an ihrer Rückkehr zur Anlaufbahn. Der Unglücksort ist zu ihrer zweiten Heimat geworden. Die Stabhochspringerin lacht und sagt: „Eigentlich wollte ich ja erstmal einen großen Bogen um diese Stadt machen. Aber mir gefällt es hier gut, es ist sehr familiär.“ Das Rehazentrum wird von Klaus Eder, dem Physiotherapeuten der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, geleitet.
Täglich drei Physiotherapietermine plus selbständiges Training stehen auf dem Programm. „Bislang darf ich nur Fahrradfahren, Joggen geht noch nicht. Ich muss sehr vorsichtig sein mit dem Aufbautraining“, sagt Hütter. Der ehrgeizigen Leichtathletin kann es nicht schnell genug gehen mit der Genesung, doch Geduld ist keine Tugend von ihr. „Mir wurde schon mein Gradmesser für das Knie abgenommen, weil ich mich damit total verrückt gemacht habe.“
Jakob Lötzbeyer hat eine tragende Rolle
Das Leben in der Reha ist monoton, der Tagesablauf ist meist gleich. Auf die Frage, ob sie aus ihrem Unfall auch Positives ziehen kann, überlegt Julia Hütter eine ganze Weile. Dann sagt sie: „Es gibt hier in der Reha Menschen, die haben unverschuldet ein Bein verloren. Gegenüber ihnen geht es mir prächtig.“ Mindestens bis Ende November wird Julia Hütter noch in Donaustauf bleiben müssen – über 300 Kilometer von ihrer hessischen Heimat Bruchköbel entfernt. Dort hat sie vor zwei Jahren ihr Studium zum Kommissarin abgeschlossen. In Mainz arbeitet sie nun bei der Polizeiausbildung für Spitzensportler – zurzeit ist sie krankgeschrieben.
Klar gebe es Tage, an denen sie deprimiert sei, sagt sie. Vor allem wenn sie keinen Fortschritt erkennen könne. Dann sind Telefonate mit Freunden, ihrer Lebensgefährtin oder Jakob Lötzbeyer von Nöten. „Er hat eine tragende Rolle im Heilungsprozess“, sagt Julia Hütter über ihren Trainer, der seine Karriere neben der Stabhochsprungmatte eigentlich nach den Sommerspielen in Peking beenden wollte. „Dass ich ihm den Traum von den Olympischen Spielen nicht erfüllen konnte, war fast schlimmer als die Verletzung“, sagt die Stabhochspringerin.
„Ich weiß, dass Julia beißen kann“
Das Stabhochsprungfinale in Peking hat sie sich trotzdem am Fernseher angesehen. „Der Endkampf wäre für mich drin gewesen“, ist sich Julia Hütter sicher. „Aber es bringt nichts, irgendwann muss man die Ereignisse einfach abhaken.“ Nun peilen Trainer und Athletin gemeinsam die Weltmeisterschaft 2009 in Berlin an. „Ich werde sie jetzt nicht sitzen lassen. Wir sind als gutes Gespann bekannt und bekennen uns zur WM 2009“, sagt Jakob Lötzbeyer und fügt hinzu: „Ich weiß, dass Julia beißen kann. Das hat sie in den letzten Jahren oft genug bewiesen.“
Technisch wird die Stabhochspringerin kaum Einbußen hinnehmen müssen. Viel schlimmer wiegt der Athletikverlust. Deswegen wird Julia Hütter zur Hallensaison noch nicht wieder fit sein. „Die Ärzte meinen aber, dass ich im Sommer wieder springen kann“, sagt sie. Vielleicht dauert es ja gar nicht lang, bis sie in ihrem Gästebuch statt Mitleidsbekundungen wieder Glückwünsche entgegen nehmen darf.