Betrügereien auf der Marathonstrecke
Schummeleien im Marathon haben eine lange Historie. Einer der spektakulärsten Fälle in der frühen Olympischen Geschichte spielte sich 1904 in St. Louis (USA) ab. Damals wurde, so ist es überliefert, der US-Amerikaner Fred Lorz nach Krämpfen auf einem Fahrzeug zum Stadion gebracht, kurz vor den Toren ging dieses kaputt. Das wiederum veranlasste ihn, doch wieder weiter- und als frischer Erster ins Ziel einzulaufen.

Fälle, bei denen die Läufer nur einen Teil der 42,195 Kilometer mit den eigenen Beinen zurücklegen, sind bei den großen Laufevents auch heute noch Gang und Gäbe. In Frankfurt und Berlin etwa werden jedes Jahr siebzig oder mehr Teilnehmer nachträglich disqualifiziert, weil Zwischenzeiten fehlen oder nicht plausibel sind.
Ohne Zwischenzeit von Start bis Ziel
Am Main hatte ein Starter vor drei Jahren sogar nur eine Start- und Zielmessung, aber keine einzige Zwischenzeit, die eigentlich alle fünf Kilometer zu Buche hätte schlagen müssen, wenn der Kurs ordnungsgemäß absolviert gewesen wäre. Sein Marathon bestand offenbar aber nur aus wenigen Meter. Die Disqualifikation nahm er schließlich ohne eine Stellungnahme hin. Deshalb ist auch nicht bekannt, wie er die Zeit zwischen Beginn und Einlauf totschlug.
Andere kürzen gerne einfach mal ab und das immer wieder. Ein Läufer, der über die letzten Jahre in Berlin schon viermal auffällig geworden war, versuchte schließlich in London sein Glück, doch auch den Briten stach seine unschlüssige Renngestaltung ins Auge. Sie fragten in Deutschland nach, dort wusste man mit dem Namen sofort etwas anzufangen und konnte den Verdacht aus dem Stegreif bestätigen.
Mit großen Konsequenzen haben die Breitensportler, die sich ihren Weg ein gewisses Stück fernab der Marathonlinie bahnen, nicht zu rechnen. Lediglich eine Disqualifikation erfolgt. In aller Regel räumen die Veranstalter auch die Möglichkeit einer Stellungnahme und Rechtfertigung ein. Wenn diese plausibel erscheint, wird die Disqualifikation nicht ausgesprochen bzw. wieder zurückgenommen.
Schwindler im Visier
Die größeren Marathon-Ausrichter nehmen Schwindler durchaus ernst und entsprechend aufs Korn, daran lassen sie keinen Zweifel aufkommen. „Als Veranstalter weiß man, wo man am besten abkürzen kann. Es gibt immer solche Möglichkeiten. Bei uns werden Straßen zwei- oder dreimal belaufen“, berichtet der Frankfurter Renndirektor Jo Schindler, der sich in den Verdachtsfällen moralisch in der Beweispflicht sieht.
Für seinen Hamburger Kollegen Wolfram Götz muss vor allem der betriebene Kontrollaufwand mit dem Ergebnis in Einklang stehen. Er schließt deshalb auch eine existierende Dunkelziffer in anderen als den normalen Betrugsfällen nicht aus. Trotzdem steht für ihn fest, dass sich die Anzahl der Teilnehmer, bei denen Verdachtsmomente bestehen, in einer relativ geringen Größenordnung bewegt.
17 Disqualifikationen wurden in der Hansestadt in diesem Jahr ausgesprochen, weniger als in Berlin und Frankfurt. Für Wolfram Götz steht fest: „Wenn jemand betrügen will, dann betrügt er vor allem sich selber. Ich sehe mich als Veranstalter zunächst nicht in der Pflicht.“
"Relativ gesehen wenig"
Auch für Rüdiger Otto, den Geschäftsführer des Berliner Veranstalters SCC-Running, sind die 70 bis 100 Disqualifikationen, die Jahr für Jahr an der Spree verhängt werden, angesichts der großen Läufermasse „relativ gesehen wenig“. Seit sieben oder acht Jahren habe man einen Kontrollmechanismus, bei dem kaum jemand mehr mogeln könne.
Über diesen ist vor drei Wochen auch der Mexikaner Roberto Madrazo gestolpert. Er wurde aus der Wertung genommen, nachdem er den Messungen nach ein Teilstück schneller als der äthiopische Weltrekordläufer Haile Gebreselassie zurückgelegt hatte und mit einer für einen 55-Jährigen phänomenalen Zeit von 2:41:12 Stunden ins Ziel kam.
Bei der Disqualifikation wussten die Verantwortlichen von SCC-Running noch nicht, dass es sich bei dem Schwindler um einen namhaften Politiker und früheren Präsidentschaftskandidaten handelt. Doch schließlich brachten Medienbeiträge das ebenso ans Licht wie ein Foto von Roberto Madrazo, das ihn zeigt, wie er nach seinem Betrug jubelnd und triumphierend ins Ziel einläuft. Dabei hatte dieser zwischenzeitlich behauptet, dass er dorthin nur zurückgekehrt war, um seine Sachen und die Teilnahmemedaille abzuholen. Die Bilder sahen anders aus. Ertappt, überführt und bloßgestellt! Läuferlügen haben keine schnellen Beine.
Verbessertes System
Für Rüdiger Otto läuft jeder Marathon-Teilnehmer vor allem „gegen sich selbst und sein Gewissen“. Diejenigen, die nach einer Abkürzung suchen oder gerne auch mal ein Stück mit der U- oder S-Bahn fahren, haben dabei oft ein schlechtes Gewissen: „Es gibt kaum jemanden, der sich über seine Disqualifikation richtig beschwert, sie verdrücken sich eher in die Ecke.“
Das „Sich-Verkrümeln“ ist bei den Spitzenläufern wesentlich schwieriger, stehen sie doch unter öffentlicher Beobachtung. Und die Zeiten aus den Anfängen des Hamburger Marathons, als eine Osteuropäerin mehr als acht Kilometer ausließ, um schließlich auf Rang drei gewertet zu werden, ehe aufmerksame Zuschauer diesen Fall meldeten, sind vorbei. Dafür sorgt auch das verbesserte Zeitmess- und Chipsystem.
Der spektakuläre Fall der Kerstin Metzler-Mennenga
Betrogen wird aber eben trotzdem noch, auch in den vordersten Reihen des Starterfeldes. Der Olympische Traum, den Fred Lorz vor mehr als hundert Jahren schelmisch träumte, hat nämlich nichts an Faszination verloren. Gemogelt wird jetzt allerdings raffinierter. Das hat der in der letzten Woche aktenkundig gewordene, spektakuläre Fall der Liechtensteinerin Kerstin Metzler-Mennenga bewiesen.
Die 26-Jährige suchte sich über das Internet unter dem Pseudonym einer Stefanie Mertens ein passendes Opfer, jubelte diesem unter dem glaubhaft gemachten Vorwand, eine wissenschaftliche Studie durchführen zu wollen, den eigenen Zeitmesschip in ein Säckchen verpackt unter und ließ so jemand anderen für sich die WM- und nun auch die Olympiaqualifikation erlaufen.
Kerstin Metzler-Mennenga perfektionierte dabei ihr System mit bemerkenswert großer krimineller Raffinesse. In einer langfristigen Vorbereitung des Schwindels für den jüngsten Berlin-Marathon akquirierte sie mehrere Läufer mit der Aussicht auf eine kleine finanzielle Entschädigung frühzeitig und hielt zu ihren Favoriten auch den Kontakt.
Über den "Ghostrunner" gestolpert
Immer wieder erkundigte sie sich nach leichtathletik.de vorliegendem Schriftverkehr vor dem Schein der Studie, die sie durchführe, nach dem aktuellen Trainingszustand und den Aussichten, die angestrebte Zeit zu erreichen. Auch mögliche Mitläufer mit bestimmten Zielzeiten brachte sie ins Spiel, um angesichts der Reaktion darauf die Perspektiven zu erkennen. Bereits zuvor hatte sie Trainingspläne und -protokolle eingefordert. Auch auf diesem Weg wollte sie scheinbar die Leistungsfähigkeit ihrer unfreiwilligen Probanden einschätzen können. Das geschah offenbar aus einem guten Grund: beim ersten Betrugsversuch vor einem Jahr hatte der Läufer die Zielzeit deutlich verfehlt.
In Berlin fiel die Wahl schließlich auf Christian Neumann (TriAs Hildesheim), der unwissentlich mit seinen 2:42:04 Stunden für einen neuen und in Liechtenstein vielumjubelten Landesrekord im Frauen-Marathon sorgte. Doch zugleich stolperte Kerstin Metzler-Mennenga, die am 2. September noch den ergaunerten WM-Marathonstart in Osaka (Japan) in einer Zeit von 3:11:45 Stunden auf Rang 53 zu Ende gebracht hatte, über ihren „Ghostrunner“.
Eine Woche nach dem Rennen bemerkte dieser beim Studium der Berliner Ergebnisliste die eigenartige Übereinstimmung von Zwischen- und Endzeiten, wenig später meldete er den Fall an die Organisatoren. Zum selben Zeitpunkt waren die merkwürdigen Umstände auch bereits dem Schweizer Trainer Richard Umberg aufgefallen, der ebenfalls Steine ins Rollen brachte.
Lebenslange Sperre
Die Lawine traf schließlich auch mit voller Konsequenz Kerstin Metzler-Mennenga, die dann vor Wochenfrist bei einer Pressekonferenz ihre Betrügereien beim Frankfurt-Marathon 2006, dem Hamburg-Marathon im Frühjahr und zuletzt beim Berlin-Marathon gestand. Inzwischen ist die Athletin, die nachträglich auch noch Lügen bei ihrem Geständnis zugeben musste, von ihrem Verband, der die Betrügereien auf das Schärfste verurteilte, lebenslänglich gesperrt worden - wie schon 1904 Fred Lorz. Fördergelder will sie nach einem Bericht des „Liechtensteiner Vaterlands“ nun zurückzahlen.
Der ausgenutzte Christian Neumann zeigt indes nun kein großes Verständnis für die Athletin mehr: „Von Kerstin bin ich, auch wenn ich sie kaum kenne, sehr enttäuscht“, sagt er. „Es ist schon ziemlich ungeheuerlich, sich auf diese Art und Weise die Teilnahmen an Weltmeisterschaften sowie an Olympischen Spielen zu ergaunern.“
Kerstin Metzler-Mennenga überließ dabei nichts dem Zufall, sie setzte auf mehrere Pferde. Martin Hermann von der LG Wehringen war von ihr ebenfalls für Berlin akquiriert worden. Doch die Chip-Übergabe am Reichstag platzte, wofür er eine plausible Theorie hat. „Meine These: es wurden mehrere Läufer bestellt, dabei war ich wohl nur ein Ersatz, falls ein schnellerer ausfällt. Nachdem der Richtige da war, konnte sie mich ignorieren.“
Schwachstelle
Dieser Richtige, Christian Neumann, und der beinahe auch reingelegte Martin Hermann haben jetzt vor allem die Forderung an die Marathon-Veranstalter, genauer hinzusehen. Doch nicht jeder ihrer Vorschläge stößt auf Gegenliebe. Vor allem ein Abgleich von Abertausenden an Datensätzen nach Serien von identischen Zwischenzeiten oder welchen mit geringen Abweichungen bedeutet einen immensen Aufwand.
„Keiner kuckt darauf, ob jemand mit zwei Chips läuft. Es ist eine Schwachstelle, solche Betrügereien sind nur schwer aufdeckbar“, meint der Hamburger Renndirektor Wolfram Götz, der auch auf viele Paare verweist, die eben den Marathon Schulter an Schulter laufen und so für Deckungsgleichheiten sorgen, die nur mühselig auseinander zu dividieren wären.
Die genannte Schwachstelle nutzte Kerstin Metzler-Mennenga gezielt, aber doch hatte sie Glück. Denn obwohl sie in Hamburg mit der Nichtanmeldung des vermeintlich von ihr erzielten Landesrekords kein zusätzliches Risiko einging, hätte ihr Schwindel ebenso wie ein halbes Jahr später in Berlin auffallen können, wenn nicht sogar müssen.
Sorgfältiger Abgleich fehlte
Schließlich notieren Kampfrichter im Ziel die ersten 100 Männer und die schnellsten 50 Frauen per Hand. Wäre der Abgleich mit den elektronischen Daten sorgfältig erfolgt, dann hätte die Liechtensteinerin in Hamburg und Berlin gar nicht erst in die abschließende Wertung kommen dürfen. Zumindest hier stehen die Veranstalter mit den Kampfrichtern nun in der Pflicht, präziser zu kontrollieren. Das ist die Lehre, die man aus dem Fall von Kerstin Metzler-Mennenga ziehen muss.
Aber auch wenn sich die Schlinge immer enger zieht, wird es weiterhin herkömmliche, kuriose und spektakuläre Betrügereien auf der Marathonstrecke geben. Zumindest Rüdiger Otto nimmt dabei allerdings sich als Berlin-Veranstalter und seine Kollegen ein Stück weit in die Pflicht: „Im Grunde muss jeder Veranstalter auch mit dafür sorgen, dass das System für Betrüger abschreckend wirkt.“
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