Cathleen Tschirch wird Landestrainerin
Jahrelang war sie Deutschlands First Lady über 200 Meter und 2007 in der Halle sogar die schnellste Frau Europas. Jetzt wechselt Cathleen Tschirch (TSV Bayer 04 Leverkusen) die Fronten. Am Montag (30. September) scheidet die 34-Jährige bei der Bundeswehr aus. Ab Dienstag (1. Oktober) arbeitet die gelernte Physiotherapeutin in Mannheim hauptamtlich als Landestrainerin Nachwuchs für den Raum Nordbaden.
Motiviert bis in die Fußspitzen nimmt Cathleen Tschirch neuen Anlauf. Dabei allerdings nicht im Startblock hockend, sondern Hilfestellung gebend. Ihr neuer Lebensmittelpunkt: Mannheim. Da wo Karl Drais 1817 das erste Zweirad baute, Werner von Siemens 1880 den ersten elektrischen Aufzug vorstellte und 1886 das erste Automobil von Carl Benz über die Straßen rollte, möchte die „nur“ 1,65 Meter messende Sympathieträgerin künftig begabten Nachwuchs in Fahrt bringen.Ihr neuer Arbeitgeber: die Arbeitsgemeinschaft des badischen und des württembergischen Leichtathletik-Verbandes. Im Mittelpunkt: Athleten zwischen 14 und 16 Jahren. Eines von vielen Aufgabengebieten: die Beratung und Unterstützung von Vereinen und Heimtrainern. Außerdem heißt es, in Zusammenarbeit mit Schulen Talente zu sichten und zu fördern. Schülercamp und Pfingsttrainingslager – zwei Events mit Tradition, beide mit Rotstift und Ausrufezeichen im Kalender der neuen Landestrainerin markiert
Großer Schatten: Michael Hoffmann
Was bei Stellenausschreibung, Bewerbung und Job-Interview noch nicht absehbar war: Cathleen Tschirch wird die Lücke schließen müssen, die der Anfang September plötzlich und allzu früh verstorbene Michael Hoffmann hinterlassen hat - zwangsläufig und zumindest so gut es geht.
Die Kooperation mit Schulen in der Rhein-Neckar-Region, die Organisation der DLV-Juniorengala, die Jahr für Jahr nationale und internationale U20-Asse nach Mannheim treibt – zwei von vielen Facetten, die der rührige Abteilungs- und Jugendleiter der MTG Mannheim über Jahrzehnte optimal abgedeckt hat. „Welche Aufgaben ich aus diesen Bereichen übernehme, dazu kann ich noch nichts sagen. Das wäre absolut verfrüht“, übt sich die Erfolgs-Sprinterin in Diplomatie. Menschlich und pietätvoll.
Kaum zu überbietendes Startkapital: Was Cathleen Tschirch jede Menge Autorität verleihen dürfte, ist ihre Authentizität - nicht nur wegen der Bestzeiten, die bei 11,35 und 22,97 Sekunden stehen. Die neue Trainerin setzt auf Innovation und alternative Methoden. So achtet sie peinlichst genau darauf, Dysbalancen zu vermeiden. Landläufige Dehnübungen, Berge hoch sprinten und Fußgelenkarbeit sind ihr ein Greuel. Hinke-Läufe, Übungen zur Stärkung der Oberschenkelrückseite - nur zwei Beispiele aus ihrem umfangreichen Übungs-Repertoire. Elemente, die Abwechslung in den Trainingsalltag bringen.
Motto: Kinder stark machen
Und mental ungeahnte Kräfte freisetzen. Ihr Credo: Den Nachwuchs beim Wachstum unterstützen und physisch wie psychisch so stark machen wie möglich. „Ich achte sehr darauf, dass sämtliche Belastungen der Entwicklung angemessen sind. Und die ist bei Schülern absolut unterschiedlich ausgeprägt“, weiß Cathleen Tschirch. „Das Allerwichtigste: die Kids müssen gesund sein, gesund bleiben und Spaß an der Sache haben.“
Die notwendigen Trainerscheine in der Tasche, konnte Cathleen Tschirch bereits beim TSV Bayer 04 Leverkusen wichtige praktische Erfahrungen in ihrem neuen Metier sammeln. „Ich hatte riesengroßes Glück, mit den Nachwuchstrainern Lars Knut und Matthias Rau viele Dinge besprechen zu können und mitwirken zu dürfen. Von daher war die Vorbereitung optimal“, bedankt sich die Extraklasse-Sprinterin bei ihren Wegbereitern.
„Außerdem habe ich Karl-Heinz Düe, Tobias Kofferschläger, Steffi Nerius und Erik Schneider viel zu verdanken, denn sie haben mich sportlich sehr beeinflusst“, verlässt die Athletin Leverkusen mit einem weinenden Auge. „Ich bin ihnen wahnsinnig dankbar für ihre Hilfe und die Erfahrungen, die sie an mich weitergegeben haben.“
Perspektivreiche Kombination
Dass die scheidende Stabsunteroffizierin vor ihrer Tätigkeit als Sportsoldatin bereits eine Ausbildung zur Physiotherapeutin absolviert hat – eine seltene, aber perspektivreiche Kombination. Und ein zusätzliches Bonbon. „Ich habe ein fundiertes Wissen im medizinischen Bereich. Meiner Meinung nach gibt es in Deutschland diesbezüglich noch große Lücken. In anderen Ländern ist das anders. Vielleicht kann ich helfen, diese Lücke zu schließen“, kommentiert Cathleen Tschirch.
Nach einer Eingewöhnungsphase auch wieder selbst die Rennschuhe zu schnüren, scheint nicht ausgeschlossen. „Vom Kopf her bin ich noch nicht so weit sagen zu können: Ich höre komplett auf. Allerdings weiß ich, dass ich mich neu organisieren muss. Inwieweit ich eigene Aktivitäten damit vereinbaren kann, wird sich zeigen. Aber so richtig abgeschlossen habe ich noch nicht.“
Von Kindesbeinen an
Cathleen Tschirch ist Leichtathletin durch und durch. Die Eltern waren als Trainer tätig. Der Sportplatz - für Klein-Cathleen Spielplatz und Ausbildungsstätte gleichermaßen. Nach ersten Erfolgen beim Dresdner SC wechselte die Sprinterin 2004 zur LG Weserbergland – ein Karriere-Kick.
Von 2006 bis 2008 war die Staffel der Niedersachsen Deutscher Meister, Cathleen Tschirch 2007 zudem Deutsche Meisterin über 200 Meter – sowohl in der Halle als auch im Stadion. Ein Coup, den sie 2012 wiederholen konnte – da wie bei ihrem Stadiontitel 2009 für den TSV Bayer 04 Leverkusen aktiv. Allesamt Ergebnisse harter Arbeit.
„Trotz meiner Reiselust ist mir besonders die Weltmeisterschaft 2009 in Berlin mit dem Gewinn der Bronzemedaille in bester Erinnerung“, sagt die gebürtige Sächsin. „Aber auch das Olympische Finale in Peking.“ In der chinesischen Hauptstadt wurde Cathleen Tschirch mit dem DLV-Quartett 2008 Fünfte. Negative Erlebnisse sind zwar verarbeitet, aber lange noch nicht vergessen: „Ich weiß noch ganz genau, wie wir bei der Europameisterschaft den Stab verloren haben“, spielt sie auf den Vorlauf der EM 2006 in Göteborg an, dabei aber gelassen und gelöst wirkend.
Rückschläge verarbeitet
Sehnig, langgliedrig, locker bis in die Zehenspitzen – so trommelt Cathleen Tschirch über den Kunststoffbelag, wenn sie fit ist. Doch immer wieder galt es Rückschläge wegzustecken. Zwei Virusinfekte, die sich immens auf das Immunsystem auswirkten, warfen sie zeitweilig vollkommen aus der Bahn. Auch die Nachwehen einer Blindarm-Operation haben sie umdenken lassen.
Vier Wochen nach der OP schnürte sie bereits wieder die Rennschuhe – besessen von der Idee, den 2010 bei der EM in Barcelona (Spanien) absehbaren Husarenritt der DLV-Staffel mit gestalten, optimieren zu müssen. Gesundheitliche Risiken wurden missachtet, Warnungen in den Wind geschlagen. „Das war schlichtweg unvernünftig“, beurteilt die Vollblut-Leichtathletin ihre allzu forsche Rückkehr ins Stadionoval heute kritisch. Und erteilt ihrer neuen Klientel damit eine erste, ernste Lektion.