Haile Gebrselassie - Zwischen Glück und Sehnsucht
Er wirkt immer fröhlich, herzlich, aufgeschlossen und hat für jeden ein freundliches Wort. Er hört sich die Sorgen und Nöte derer an, die ihm ihr Herz ausschütten und man sieht ihn meist nur lächeln und scherzen. Haile Gebrselassie ist Olympiasieger, siebenfacher Weltmeister, hat 15 Weltrekorde verbessert.
Haile Gebreselassie lacht gern und viel (Foto: Schröder)
Er verdient Millionen durchs Laufen, ist Vater von drei süssen Töchtern und hat in Addis Abeba sein zweites Geschäftszentrum bauen lassen. Als Altersvorsorge. 650 Quadratmeter, zehn Stockwerke, ein Fitnessstudio und ein Penthaus. Kosten: vier Millionen Dollar. Rund 100 Leute haben daran auf der Baustelle gearbeitet. Haile Gebrselassie hat allen den Job vermittelt. Insgesamt sollen etwa 800 Personen finanziell in seine Geschäfte und Projekte involviert sein. Er scheint ein glücklicher Mensch zu sein. Ein Mensch, den nichts erschüttern kann, der für alles eine Lösung findet. Doch dies ist nur die Oberfläche. Hinter der Fassade verbirgt sich eine nachdenkliche, verantwortungsbewußte und verletzliche Person. "Wie kann ich glücklich sein, wenn Millionen meiner Landsleute vom Hunger bedroht ist", sagt der 1,65 Meter große Wunderläufer aus Äthiopien kopfschüttelnd. Er weiß selbst wie es ist, hungern zu müssen, ist mit neun Geschwistern aufgewachsen. Das hat sich tief eingegraben in seine Seele, hat ihn geprägt.
"Ich kann nur glücklich sein, wenn die Leute auch glücklich sind." Das Volk vertraut ihm. Haile Gebrselassie weiß dies. "Ich kann nicht den Menschen in ganz Äthiopien helfen, aber ich versuche es zumindest in Addis Abeba." Er spürt eine große psychische Belastung." Als ich angefangen habe zu laufen, hatte ich Probleme, weil ich kein Geld hatte, nun habe ich Geld und ich habe auch Probleme." Einerseits genießt er seine Berühmtheit, andererseits fühlt er sich dadurch unter Druck gesetzt. "Ich bin Vorbild für viele junge Menschen, da muss ich aufpassen, was ich tue".
Längst ein Nationalheld
Er wird bewundert, ist längst ein Nationalheld. Wer in den verstaubten Straßen von Addis Abeba nach dem Wunderläufer fragt, bekommt umgehend Auskunft. Egal ob von den Obsthändlern in den halbzerfallenen Holzhütten, den unzähligen Taxifahrern in ihren blauen verrosteten Vehikeln mit den weißen Dächern oder den mageren Jungs, die sich mit Esel, Schafen und Ziegen sicher zwischen den unzähligen Autos und den hoffnungslos überfüllten orangefarbenen Stadtbussen durchschlängeln. Jeder kennt ihn. Selbst die kleinen Mädchen, in ihren zerfetzten, schmutzigen Kleidern mit ihren verfilzten schwarzen Haaren, die auf den Straßen der äthiopischen Hauptstadt leben, wissen, von wem die Rede ist. "Da habe ich keine Ruhe", sagt der Mann, der seit Jahren die Läuferszene zwischen 5.000 und 10.000 Meter beherrscht. Zum Training zieht er sich entweder ins Nationalstadion von Addis Abeba zurück oder er fährt in die Höhe, nach Entoto.
Ein Gebiet, etwa 30 Autominuten von der Hauptstadt entfernt. Für Haile Gebrselassie und seine Trainingsgruppe ist dies ein Paradies. Es liegt rund 3.000 Meter hoch und hier finden die Läufer nur Felder, Gras, Nadelbäume und Hügel in allen Variationen. Und unglaubliche Farbschattierungen in den verschiedensten Gelb-, Grün- und Brauntönen. Friedlich grasen hier Esel und Schafe. Für den faszinierenden Anblick hat der 29-Jährige allerdings kaum etwas übrig. Er spult hier sein Programm ab. Dauerläufe, Steigerungen, Intervalltraining und Tempoläufe.
Sehnsucht nach der Familie
Er lebt mit seiner Frau Alem und seinen Töchtern in einem modernen Haus in der Drei-Millionen-Stadt Addis Abeba. Während der Saison ist Haile Gebrselassie oft in Holland, der Heimat seines Managers Jos Hermens. Doch wann immer es möglich ist, reist er nach Hause. "Früher lebte ich oft drei Monate in Holland. Heute habe ich schon nach sechs Wochen Sehnsucht nach meiner Familie."
Seine Kindheit verbrachte Haile Gebrselassie in Arsi, rund 300 Kilometer von Addis Abeba entfernt. Zusammen mit fünf Brüdern und vier Schwestern, zwei der Mädchen starben als Kinder. Vater Gebrselassie war Farmer, seine Mutter starb vor 19 Jahren, erlebte denn Triumph ihres Sohnes nicht mehr mit. Dabei musste Haile Gebrselassie hart für seinen Sport kämpfen. "Vater wollte nicht, dass ich laufe, hat es nie ernst genommen."
Als er mit dem ersten Titel inklusive Auto von der WM 1993 zurückkam, änderte sich die Situation. "Er war völlig verwundert, dass man mit Laufen etwas verdienen kann. Seit dieser Zeit akzeptiert er es." Damals lebte der Ausnahmeathlet schon in Addis Abeba. Der Wunderläufer hat übrigens selbst ein Idol. "Ich bewundere neben unserem zweifachen Olympiasieger Abebe Bikela, Tegla Lourupe aus Kenia. Sie ist die afrikanische Marathon-Queen."
2003 kein Marathon geplant
Apropos Marathon. Haile Gebrselassie wollte umsteigen auf die Marathonstrecke. In seinem ersten Lauf in London im vergangenen April beeindruckte der kleine Afrikaner mit dem weltbesten Debüt, das je einem Läufer gelang. Nach 2:06:35 Stunden war er im Ziel. Damit wurde er Dritter. Nun legt er seine Marathon-Ambition auf Eis. Zumal ihn im vergangenen Sommer eine halbjährige Verletzung an der Wade zur Pause - und zum Nachdenken zwang. Schon 2001 in Edmonton hatte sich gezeigt: auch ein Wunderläufer ist nicht unschlagbar. Vor allem nicht unverwundbar. Er hat daraus gelernt.
"2003 ist kein Marathon geplant", sagt der zweifache Olympiasieger und Weltrekordler über 10.000 Meter, der im Dezember in Doha in einem 10-Kilometer-Straßenrennen eine neue Weltbestzeit aufgestellt hatte. Dafür will er in Paris im August wieder Weltmeister werden - über 10.000 Meter. Er absolviert eine kurze Hallensaison und will diese mit der WM in Birmingham im März abschließen. Egal was passiert - Haile is back on the track. Und sein Saisondebüt gibt er in Stuttgart.
Text: Ursula Kaiser / Sparkassen-Cup Stuttgart