Christina Obergföll - „Hunger nach mehr“
Bei der EM musste Speerwerferin Christina Obergföll noch etwas enttäuscht mit dem zweiten Platz vorlieb nehmen, danach drehte die Offenburgerin richtig auf. Zunächst gewann sie das Diamond League-Meeting in Zürich (Schweiz) mit 67,31 Metern, dann an ihrem 29. Geburtstag das deutsche Traditionsmeeting ISTAF in Berlin (67,57 m). Im Interview spricht sie unter anderem über das Pech, das sie lange verfolgt hat und was ihr die Siege in Zürich und Berlin bedeuten.

Christina Obergföll:
Normalerweise müsste ich jetzt endlich mal tot sein. Nach Zürich konnte ich schon kaum schlafen und auch die Nächte danach nicht. Meine beste Freundin hat am Samstag in Offenburg geheiratet und ich habe dort die Lesung gehalten. Es war sehr emotional. Zwischen dem Meeting in Zürich und Berlin habe ich sehr viele emotionale Momente erleben dürfen.
Mussten Sie die Hochzeit früher verlassen, um nach Berlin zu reisen?
Christina Obergföll:
Wir sind um vier Uhr morgens losgefahren, von Offenburg nach Frankfurt, weil kein Flieger aus Baden-Baden nach Berlin ging. Um halb neun waren wir in Berlin-Tegel, sind dann mit dem Taxi ins Hotel gefahren. Dort schnell ins Zimmer, umziehen und dann ab ins Stadion. Geschlafen habe ich gar nicht in der Nacht vor dem ISTAF.
Hatten Sie keine Angst, dass Ihre Leistung darunter leiden würde?
Christina Obergföll:
Die Gäste auf der Hochzeit haben schon gesagt, es wird bestimmt auch ohne Schlaf super, und wenn es klappt, müsse ich das immer machen. Aber so etwas klappt wahrscheinlich immer nur einmal, man sollte das nicht öfter provozieren. Ich hatte ein gutes Gefühl. Zürich war schon gut, und alle haben mir gesagt, ich solle mir ein schönes Geburtstagsgeschenk machen. Ich fühle mich jetzt super. Mal zwei, drei Nächte nicht gut zu schlafen, das geht immer.
Haben Sie denn Geschenke aus der Szene bekommen?
Christina Obergföll:
Das Betreuerteam, das ich noch von der Universiade 2003 in Daegu kannte, hat mir eine Tafel von der Veranstaltung damals geschenkt. Im nächsten Jahr ist die WM ja auch in Daegu. Und auf der Tafel stand „Auf dem Weg nach Daegu alles Gute“. Das fand ich super, dass sie sich so viel Mühe gemacht haben.
Wie kam es, dass Ihr Freund Boris Henry Sie in Berlin beim Wettkampf betreut hat?
Christina Obergföll:
Er war dabei, weil ich am Sonntag Geburtstag hatte. Ich habe meinen Trainer Werner Daniels gefragt, ob ich ihn mitnehmen darf. Mein Trainer hat gesagt, ich soll mir einen schönen Tag machen, ich hätte sowieso einen Lauf. Wir hatten aber auch eine Live-Schaltung, weil Boris meinen Trainer nach jedem Versuch angerufen hat. Es war wirklich nur eine Ausnahme zu meinem Geburtstag.
Sind Sie ein bisschen traurig, dass Sie vor drei Wochen mit der Weite vom ISTAF EM-Gold gewonnen hätten?
Christina Obergföll:
Sicherlich wäre ich gerne Europameisterin geworden. Aber so bleibt mir auch der Hunger nach mehr. Im Moment ist meine Motivation sehr, sehr groß, und ich werde versuchen, das in die beiden nächsten Jahre mitzunehmen. 67,50 Meter habe ich schon oft geworfen, aber zum jetzigen Zeitpunkt war das sehr wichtig. In Berlin war es wie Ostern, Weihnachten und Geburtstag zusammen. Mit den Siegen in Zürich und Berlin habe ich der Weltklasse gezeigt, „Hey, wartet mal, ich bin auch noch da. Ich werfe auch vorne mit und kann so Wettkämpfe auch gewinnen.“ Daher verspüre ich im Moment keinen Wehmut. Ich habe EM-Silber gewonnen und zwei sensationelle Wettkämpfe gemacht. Und bei der EM war ich gesundheitlich einfach nicht topfit.
Welche Probleme hatten Sie da?
Christina Obergföll:
Ich hatte einen Magen-Darm-Virus. Ich hatte davor super trainiert. Samstags sind wir nach Barcelona geflogen, Sonntag ging es mir schon schlecht und montags ging es dann los. Dienstag in der Qualifikation ging es noch, denn einen Tag krank sein kann man immer wegstecken. Aber drei Tage lang ist nichts in mir geblieben. Im Finale habe ich mir gesagt es geht mir gut, aber als wir ins Stadion gegangen sind habe ich schon gemerkt, wie die Beine schwer wurden. Ich wollte das danach aber nicht so betonen, ich finde das immer so ein bisschen doof, wenn man sagt, ich habe eine Entschuldigung. Eigentlich war Silber dafür wirklich super.
Auch bei der WM im letzten Jahr hatten Sie schon gesundheitliche Probleme...
Christina Obergföll:
Da hatte sich danach dann rausgestellt, dass ich einen Bandscheibenvorfall hatte. Ich war echt vom Pech verfolgt. Mir ging dauernd durch den Kopf, dass alle denken, meine Zeit sei vorbei. Aber letztlich habe ich mir gesagt, wenn ich gut werfe, kann ich auch zeigen, dass ich noch da bin. Wenn man die richtige Leistung zeigt, kann man auch noch das eine oder andere dazu erklären.
Wie ging es Ihnen in dieser Zeit?
Christina Obergföll:
Ich habe unglaublich viel gegrübelt. In manchen Phasen habe ich auch zu meinem Trainer und Boris gesagt, dass ich wirklich keinen Bock mehr habe. 2007 war ein sensationelles Jahr und auch 2008 war nicht schlecht. 2009 ging ganz gut los und dann hatte ich ab Juni wirklich das Pech am Hacken hängen. Im letzten Jahr der Bandscheibenvorfall. Dieses Jahr zu den Deutschen Meisterschaften war ich in Top-Form und bin nur weggerutscht. Dann wollte ich es in Barcelona allen zeigen, und es hat wieder nicht geklappt. Zehn Tage rege ich mich dann immer richtig auf und muss meinen Frust loswerden.
Aber mit den Erfolgen in Zürich und Berlin könnte die Pechsträhne jetzt ja auch einmal beendet sein, oder?
Christina Obergföll:
Ja. Ich schöpfe daraus so viel Kraft und Motivation. Solche Momente wie in Berlin sind für mich als emotionalen Menschen sehr wichtig, davon zehre ich. Ich habe gesagt, ich mache so lange weiter, bis ich endlich mal ganz oben stehe.
Hatten Sie selbst einmal den Gedanken, dass Sie Ihren Zenit vielleicht wirklich überschritten hatten?
Christina Obergföll:
Das eigentlich nicht. Dafür habe ich im Training zu viele hervorragende Zubringerleistungen und gehe nach wie vor sehr motiviert alles an. Man stellt sich natürlich schon die Frage, ob man irgendetwas falsch macht oder ob man neue Reize setzen sollte. Mein Trainer hat gesagt ich habe so viel Potential und könne auch locker 70 Meter werfen, wenn ich die Lockerheit habe. Aber wenn dauernd andere besser sind, dann ist man auch zu verkrampft. In den letzten zwei Wochen hatte ich die Lockerheit und konnte den anderen sagen „So jetzt haue ich Euch mal wieder eins vor den Latz.“
Konnte Ihnen Ihr Freund Boris Henry in dieser Zeit helfen?
Christina Obergföll:
Ich habe ihn immer gefragt, womit ich das eigentlich verdient habe. Wenn ich ja wenigstens nicht gut drauf gewesen wäre. Und er hat mir immer gut zugeredet und gesagt, das kommt schon noch. Ich bekomme meine Belohnung noch in diesem Jahr. Und das war sie jetzt wahrscheinlich.
Können Sie sagen, welcher Sieg Ihnen mehr bedeutet? Der in Zürich oder Berlin?
Christina Obergföll:
Das ist schwer. Zürich habe ich schon als Kind im Fernsehen gesehen und gesagt, da will ich auch mal werfen. Und jetzt habe ich sogar gewonnen. Zürich ist Zürich. In Berlin war die Stimmung unglaublich. Man geht an den Anlauf, und die Zuschauer fangen schon an zu klatschen. Das ist Gänsehaut pur.
Das ‚Leverkusenerinnen-Trauma‘ müsste damit ja nun auch überwunden sein. Bei der WM war Steffi Nerius vor Ihnen, bei der DM Katharina Molitor und bei der EM Linda Stahl.
Christina Obergföll:
Stimmt, das wurde wirklich schon fast zum Trauma. Ich habe mir echt schon gedacht, das gibt es doch gar nicht. 2007 und 2008 war ich doch ganz klar die Beste in Deutschland und jetzt bekomme ich immer und immer wieder eins übergebraten. Drauf und noch mal drauf. Ariane Friedrich meinte schon ‚In Deiner Haut will ich aber auch nicht stecken‘. Und Robert Harting sagte: ‚Hey Du bist aber auch scheiße dran‘. Aber ich habe immer nur erwidert, sie sollen alle mal abwarten. Ich wollte nach der EM unbedingt noch deutsche Jahresbestweite werfen, damit wenigstens das geklärt ist. Und das ist es jetzt auch.
Ist das jetzt ein versöhnlicher Jahresabschluss oder haben Sie noch Ziele für diese Saison?
Christina Obergföll:
Mit der momentanen Form sollte ich eigentlich noch einmal richtig weit werfen. Vielleicht Weltjahresbestleistung. Aber ob das bei den noch ausstehenden Meetings möglich ist, das weiß ich natürlich nicht.