Maurice Greene lässt nicht locker
Der "Lautsprecher" ist leise geworden. Maurice Greene, der Vollblut-Sprinter, spuckt nur noch selten lauten Töne. Klappern gehörte sonst zu seinem Handwerk. Ihn reden zu hören, erweckte früher den Eindruck, als wolle ein Marktschreier seine Kundschaft bei Laune halten. Er gab den Ton an. Warum auch nicht! Olympiasieger war er. Und drei Mal in Folge Weltmeister, was vor ihm nur "Carl, dem Großen", Lewis mit Nachnamen, gelungen ist. Doch der alte Lorbeer ist längst verwelkt. Denn im "Stade de France" von St. Denis, wo heute die Vorläufe über 100 Meter gestartet werden, ist der Maestro nur noch einer von vielen.
Goldmedaillen am Hals mag Maurice Greene am liebsten.
Aber allen Niederlagen zum Trotz fehlt es ihm nicht an Selbstbewusstsein und dem nötigen Gottvertrauen. "Die Konkurrenten haben keine Angst mehr vor mir. Das ist richtig. Doch hier in Paris kann alles passieren. Denn ich habe schon oft für Überraschungen gesorgt. Warum sollte ich meinen Titel nicht verteidigen? Ich glaube daran. Und ich bin bereit", tönte er in altbekannter Manier, "mein größter Gegner – das bin ich selber."Technischen Feinheiten eingebüßt
Typisch Maurice Greene! Er redet gern länger als er läuft. "Ich bin gut in Form", verkündete der 28-jährige US-Boy, der bei den US-Trials auf die Teilnahme über 100 Meter verzichtet hatte, weil er als amtierender Weltmeister automatisch für den Saison-Höhepunkt qualifiziert war, "Das Problem liegt darin, dass ich wegen meiner Verletzungen die technischen Feinheiten eingebüßt habe. Nur kleine Details, die allerdings den Unterschied ausmachen." Von Mitte Mai bis Mitte Juli plagten ihn Schmerzen im rechten Knie. "Das soll keine Entschuldigung sein", fügte er geschwind hinzu, "deshalb habe ich ein wenig herumexperimentiert, habe einige Dinge ausprobiert, die dann nicht so geklappt haben, wie ich's mir erhofft habe."
John Smith, früher ein hervorragender Viertelmeiler, heute ein erfolgreicher Coach, der zuvor bereits Marie-José Pérec, Kevin Young und Quincy Watts zu Olympiasiegern formte, hat daraufhin die Notbremse gezogen und seinen prominenten Schützling nach dem Golden League-Meeting am 11. Juli in Rom quasi aus dem Verkehr gezogen. "John hat mir gesagt, dass ich mich ganz auf die WM konzentrieren solle", betonte Maurice Greene, "und jetzt kann ich es kaum erwarten, dass es endlich losgeht." Im September 1996 begann ihre medaillenträchtige Zusammenarbeit, als Greene vom staubigen Kansas City ins glamouröse Los Angeles umzog. "Maurice ist nicht mehr so stark wie früher, er hat Verletzungen durchgemacht. Aber ich wunder' mich immer wieder, wie er die Rückschläge wegsteckt. Er hat eine Super-Moral. Sicherlich ist er momentan nicht mehr der absolut Beste, doch vom Kopf her ist er der Stärkste", erklärte Smith, "es gibt keinen anderen Sprinter wie Maurice! Ja, er kann Weltmeister werden und wieder unter zehn Sekunden laufen."
WM-Vorbereitung in Monaco
Verkehrte Welt! Wie Maurce Greene trommelte ausnahmsweise sein Trainer im Vorfeld der WM mit flotten Sprüchen und machte kräftig Werbung für seinen Vorzeigeathleten, der sich in der dritten August-Woche im "Stade Louis-II" von Monaco mit den US-Staffelkollegen unter den Augen von Coach Brooks Johnson auf die WM vorbereitete.
Wie es sich für einen Champ gehört, residierte er standesgemäß im Columbus-Hotel, einer Luxusherberge mit drei Sternen, nur drei Schritte vom Stadion entfernt. David Coulthard, der Formel 1-Pilot, ist Mitbesitzer dieses Hotels. Obendrein mietete sich Maurice Greene eine Edelkarosse der Marke Maserati und unternahm einige Spritztouren bis nach Nizza.
Der Mann fällt auf, wo immer er sich aufhält. Als gut bezahlter Entertainer im Fernsehen würde er wohl auch Karriere machen. "Kansas Cannonball" rufen sie ihn, die Kanonenkugel aus Kansas. 9,94 Sekunden ist er früh in der Saison in Carson gerannt. Patrick Johnson, der Emporkömmling aus Australien, lief 9,93 Sekunden in diesem Sommer. Dwain Chambers, der Europameister, den viele als WM-Favorit handeln, hat das auch noch nicht geschafft.
Vierter Titelgewinn das Ziel
Im "Stade de France" peilt Maurie Greene seinen vierten Titel an und macht seine Späßchen über Landsmann Tim Montgomery, den Weltrekordler über 100 Meter, der beim IAAF Grand Prix-Finale 2002 in Paris mit 9,78 Sekunden eine Hundertstel schneller war als Greene anno 1997. "Den Weltrekord hol ich mir zurück, denn der gehört mir." Psychologische Nadelstiche, mit denen er den lästigen Konkurrenten irritieren will.
Aber Maurice Greene ist nicht mehr der Souverän vergangener Tage und plant dennoch über die WM hinaus. "In Athen 2004", hat er schon prophezeit, "werde ich meinen Titel verteidigen." Dann ist er gerade 30, kein Alter, in dem man die Spikes in die Ecke pfeffert. "Als ich in Sydney die 100 Meter gewonnen habe, war das ein Gefühl, wie ich es nie zuvor gespürt habe." Unglaublich und schwer in Worte zu fassen. "Mein ganzes Leben lang habe ich dafür geschuftet, und als ich die Ziellinie überquert habe, war das für mich das Größte."
Mit Ato Bolden im Hotel statt im Athletendorf
Maurice Greene, der sich mit seinem Trainingskollegen Ato Boldon eine Hotel-Suite mitten in Paris teilt, will allen Kritikern und Nörglern zeigen, dass er mit seinen 29 Jahren längst nicht zum alten Eisen zählt. eis. Dass einige ihn nicht mehr ernst nehmen, kratzt ihn herzlich wenig. Originalton John Smith: "Außerdem darf man nicht vergessen, dass er ein typischer Meisterschaftsläufer ist!" Maurice Greene, sein bestes "Pferd" im Rennstall, grinste keck und frech, doch wollte er seinem Mentor nicht widersprechen.