Claudia Gesell - Halbe Sachen gibt es nicht!
Claudia Gesell mag es auf den letzten Drücker. Es kann schon passieren, dass sie Weihnachtsgeschenke in letzter Minute besorgt. Sie erinnert sich an den Heiligabend vor zwölf Monaten und lacht: "Da stand ich dann mit meiner Schwester im Stau."
Familienmensch Claudia Gesell genießt Weihnachten (Foto: Olma)
Die Oberpfälzerin strahlt: "Weihnachten ist ein Fest für die Familie, bei uns ist da richtig was los." Sie freute sich bereits zuletzt auf die heranpreschenden Tage daheim in Ernestgrün mit ihren Eltern und ihren vier Geschwistern, die in ihrem Leben eine große Rolle spielen. "Man hängt an jedem einzelnen, ohne die Familie könnte ich nicht laufen."Es ist nicht zu übersehen, Claudia Gesell ist ein Familienmensch. Zwei Männer spielen in ihrem Leben eine große Rolle. Vater Horst, der sie behutsam an den Leistungssport heranführte und sie immer noch trainiert, und Freund Johannes, der schon fünf Jahre lang an ihrer Seite steht und sie durch so manches Tief begleitet hat.
"Wir sind eng verbunden im sportlichen Bereich", sagt sie über ihren Vater, "er investiert viel Zeit und Kraft, ich will ihm etwas zurückgeben." Dabei coacht er sie meistens aus der Ferne. Das allabendliche Telefonat gehört im Sommer dazu. Läuft es gut, ruft Claudia an. Läuft es schlecht, meldet sich der Papa irgendwann, wenn es ihm zu lange dauert und der Anruf auf sich warten lässt.
Familie und Freund meistens mit dabei
Bei der Europameisterschaft in München, bei der Claudia Gesell auf den 800 Metern einen guten fünften Platz (2:00,51 min) herauslief, war das Familienoberhaupt erstmals bei einem internationalen Großereignis mit dabei. Die Fahrten zu den deutschen Meetings dagegen sind immer so was wie Ausflüge für die ganze Familie, das Auto ist proppenvoll mit den Eltern und Freund Johannes, über den die 800-Meter-Läuferin stolz sagt: "Er geht richtig gut mit."
Er ist übrigens Medizinstudent. Irgendwie passend, ist man fast versucht zu urteilen. Denn medizinische Sorgen gab es in den letzten drei Jahren mehr als genug. Das Knie, der Rücken, ein Autounfall und in diesem Jahr die Plantarsehne. Den ganzen Sommer über hatte die seit kurzem 25-jährige Schmerzen. "Ich habe am Morgen zwei, drei Stunden gebraucht, bis überhaupt ans Laufen zu denken war", erzählt sie ihre letzte Leidensgeschichte. "Aber ich gebe nie auf, es wird gekämpft bis zum Schluss."
Das schätzt man wohl auch beim TSV Bayer 04 Leverkusen, ihrer sportlichen Heimat. Die Vertragsverlängerung im Herbst war nur eine Formsache. "Ich weiß es zu schätzen, was der Verein mir zugesteht", sagt die Oberpfälzerin dankbar. "Ich verstehe mich sehr gut mit Geschäftsführer Paul Heinz Wellmann und kann immer mit den Verantwortlichen reden. Es ist eine tolle Verbindung."
Vom unbändigen Willen angetrieben
Erst vor wenigen Wochen wich die Enttäuschung über den verpassten Sprung auf das EM-Treppchen einer gewissen Zufriedenheit. Als man bei ihr nach dem langen Verdacht auf eine Entzündung nun endlich die wahre Diagnose, einen Plantarsehneneinriss, der bereits seit Mai für jene Schmerzen gesorgt hatte, stellte, wurde erst deutlich, welche Leistung Claudia Gesell in der vergangenen Saison vollbracht hatte. Es war der unbändige Wille, der sie antrieb, und mit dem sie sich selbst charakterisiert. "Wenn in München die Sehne gerissen wäre, ich glaube, ich wäre immer noch ins Ziel gelaufen.".
Zehn Wochen, in denen die Genesung des angeschlagenen Fußes im Vordergrund stand, galt es zuletzt zu überstehen. "Ich wusste erst gar nicht, wie ich das schaffen sollte", erinnert sich Claudia Gesell. "Ich fühle mich nämlich nicht wohl, wenn ich nur rumhänge. Ich brauche immer etwas, das ich machen kann."
Also stürzte sie sich mit ihrem ganzen Elan zurück in das Studium. Diplom Sportwissenschaft mit den Schwerpunkten Prävention und Rehabilitation, im siebten Semester in München. Vorlesungen, Referate, Prüfungen und ein klares Ziel: "Ich will fertig studieren, halbe Sachen gibt es bei mir nicht."
Zurück im Athletendorf der EM
Unter der Woche wohnt sie jetzt wieder in der bayerischen Landeshauptstadt, nachdem sie im Dezember 2001 zunächst zu ihrem Freund Johannes nach Regensburg zog, wo sie jetzt meistens die Wochenenden verbringt. Mit der Unterstützung des Olympiastützpunktes bekam sie eines der kleinen Appartements im Olympischen Dorf von 1972, das auch während der EM das Athletendorf war, zurück. Von dort aus kann sie den Blick über den Olympiapark mit seinen legendären Zeltdächern und die bemalten Bungalowwände in der nahen Umgebung schweifen lassen. Ein Stück weit Erinnerung, ein Stück weit Motivation. "Ich mag das Flair und die kurzen Wege zum Trainieren und Studieren."
München ist die Stadt, in der ihr das Studium Spaß bringt und wo sie mal Zeit für Freunde hat. Aber Claudia Gesell kennt auch die Vorzüge von Regensburg, der Domstadt in der Oberpfalz: "Dort habe ich mit Johannes zusammen eine Wohnung, das ist super. Außerdem ist Regensburg überschaubarer." Doch Heimat ist Heimat und Claudia Gesell wäre nicht Claudia Gesell, würde es sie nicht noch weiter in den bayerischen Norden ziehen, in ihre Heimat nach Ernestgrün.
Abwechslung vertreibt jeden Hauch von Langeweile
Die drei Hauptschauplätze ihres Lebens als studierende Leistungssportlerin sind damit aufgezählt. Dort fühlt sie sich wohl, dort schöpft sie ihre Kraft und kann sich auf das Wesentliche konzentrieren. "Für mich wäre es stupide, immer nur an einem Ort zu trainieren. Durch die Abwechslung ist mir nie langweilig."
Claudia Gesell beschreibt sich selbst als "sehr ehrgeizig und diszipliniert." Abends um die Häuser ziehen ist deshalb nicht ihr Ding. Doch für gewisse Reize des Alltags nimmt sie sich Zeit, für einen Bummel über den Münchner Christkindlmarkt am Marienplatz zum Beispiel.
Die Weihnachtsstimmung machte sich bei ihr mit dem ersten Advent breit, die Wohnung war zeitig geschmückt und auf dem Balkon stand eine blaue Fichte. Doch ein paar Kleinigkeiten fehlten Claudia Gesell noch, wenige Tage vor Weihnachten. Die Figuren für die Krippe oder das Vogelhaus, für das ebenfalls noch ein freier Platz auf dem Balkon reserviert war.
Glücklich ist sie trotzdem, verdammt glücklich. "So wie noch nie", versichert Claudia Gesell und lachte in unendlicher Vorfreude auf die Weihnachtsfeiertage im Kreis der Familie.