„Das stärkste Team seit zehn Jahren"
Im kommenden Jahr erlebt die Leichtathletik etwas ganz Neues: Olympische Spiele und Europameisterschaften in einer Saison. Im Interview wagen DLV-Sportdirektor Thomas Kurschilgen und sein für die Bahn-Disziplinen zuständiger Cheftrainer Idriss Gonschinska einen Blick auf das Jahr 2012. Sie erklären, wie das Olympia- und EM-Team nominiert wird und warum es den Athleten im Gegensatz zur jüngeren Vergangenheit für eine Qualifikation reichen wird, die Normen für Olympia nur einmal zu übertreffen.

Thomas Kurschilgen:
2011 war eine Erfolgssaison: Bei der WM in Daegu haben wir den fünften Platz in der Nationenwertung mit 83 Punkten und im Medaillenspiegel mit sieben Medaillen erobert. Darunter dreimal Gold - das hat es seit 2001 bei globalen Titelkämpfen nicht mehr gegeben. Dazu kommen eine Hallen-EM, bei der wir in der Medaillenwertung so gut abgeschnitten haben wie seit zehn Jahren nicht, und eine Team-EM, bei der wir Zweiter hinter Russland und sehr deutlich vor den Mitbewerbern aus Großbritannien und Frankreich waren. Unser Nachwuchs hat Platz eins in der Nationenwertung bei der U20-EM in Tallinn belegt, das U23-Team ist auf Platz zwei bei der EM in Ostrava gekommen. In der Weltbestenliste 2011 haben wir 33 Platzierungen unter den Top Zwölf, davon 13 unter den Top Sechs. Unsere Nationalmannschaft ist mit einem Durchschnittsalter von 26,0 Jahren sehr jung. Das alles zeigt, dass unsere Ausgangssituation für das Olympiajahr 2012 sehr gut ist.
Welche Ziele haben Sie sich für London gesetzt?
Thomas Kurschilgen:
Am liebsten wäre es Ihnen, wenn ich jetzt exakt die Medaillenbilanz voraussagen würde, oder?
Klar, darauf könnte man Sie dann nach London festnageln. Aber zu solch einer Prognose lassen Sie sich sicher nicht hinreißen.
Thomas Kurschilgen:
Nein, aber ich bin mir sicher, dass wir den Abwärtstrend bei Olympischen Spielen stoppen werden, der sich mit nur zwei Medaillen in Athen 2004 und nur einer in Peking 2008 manifestiert hat. Wir werden in London das stärkste Olympiateam der vergangenen zehn Jahre sehen. Unser Anspruch muss es sein, uns in der Nationenwertung unter den sechs besten Nationen zu platzieren. Im europäischen Vergleich sollten wir zu den Top Drei gehören.
Was tut die Abteilung Hochleistungssport im DLV derzeit, um dieses Ziel zu erreichen und ein erneutes Olympia-Debakel zu vermeiden?
Thomas Kurschilgen:
Wenn wir erst jetzt mit der Arbeit beginnen würden, wäre es viel zu spät. Seit meinem Amtsantritt beim DLV vor zwei Jahren sind zahlreiche strukturelle, personelle und inhaltliche Veränderungen eingeleitet worden: Wir haben mit Idriss Gonschinska und Herbert Czingon zwei Cheftrainer installiert, zudem drei Leitende Bundestrainer für Lauf, Wurf und Mehrkampf. Die Cheftrainer tragen keine Verantwortung für einzelne Disziplinen oder Athleten, sondern können sich ganz darauf konzentrieren, die Nationalmannschaft operativ zu führen. Den für die einzelnen Disziplinen verantwortlichen DLV-Trainern haben wir die Verantwortung übertragen, ihre Kader sportfachlich zu führen und als persönliche Trainer mit unseren Spitzenathleten zu arbeiten. Außerdem haben wir um die Athleten und Trainer Kompetenzteams gebildet, in denen das Know-how aus Trainingswissenschaft, Medizin, Physiotherapie und Psychologie zusammengeführt wird.
Wenn man sich die Nominierungsrichtlinien für die Olympischen Spiele anschaut, fällt auf, dass es in allen Disziplinen reicht, die verlangte Norm einmal zu erfüllen. Das war in der Vergangenheit ganz anders, als die meisten Athleten zwei Normleistungen bringen mussten, um sich für Weltmeisterschaften oder Olympische Spiele zu qualifizieren. Was steckt hinter dieser Veränderung?
Idriss Gonschinska:
Die Höhepunkte wie Olympia, WM oder EM sind für viele unserer Athleten die Chance, nach einer zielgerichteten Vorbereitung global ins Rampenlicht zu treten. Denn nur wenige DLV-Athleten haben die Möglichkeit, regelmäßig in der Diamond League anzutreten und dort Geld zu verdienen – im Gegensatz zu den internationalen Stars, bei denen dann aber nicht immer die Vorbereitung auf die internationalen Meisterschaften im Mittelpunkt der Wettkampfplanung steht. Vor diesem Hintergrund sehen wir mit der einfachen Normerfüllung bessere Bedingungen gewährleistet, damit sich unsere Spitzen-Athleten optimal auf den Saison-Höhepunkt vorbereiten und dort ihre beste Leistung zeigen können. Wir haben zudem die Saisonverläufe international erfolgreicher Athleten analysiert …
Thomas Kurschilgen:
... und dabei weder bei uns noch in anderen Nationen statistische Belege dafür gefunden, dass ein mehrfaches Erfüllen der Norm eine höhere Leistung beim Saisonhöhepunkt zur Folge hat - im Gegenteil. Was nicht heißt, dass wir kein stabiles Leistungsniveau vor dem Höhepunkt bräuchten.
Das heißt, es ist einfacher geworden, sich in Deutschland für eine WM oder Olympische Spiele zu qualifizieren?
Idriss Gonschinska:
Das kann man so auf keinen Fall sagen. Unsere Normen orientieren sich immer an der erweiterten Finalchance. Um sie zu erfüllen, müssen die Athleten also Weltklasse-Leistungen erbringen. Wir haben uns aber gefragt, ob es zwingend notwendig ist, im Vorfeld einer WM oder Olympischer Spiele vielfach Weltklasse-Leistungen zu bringen, um sich im entscheiden Moment erneut steigern zu können. Unsere Analysen haben gezeigt, dass sich die für die Realisierung von Spitzenleistungen zum Höhepunkt notwendige Stabilität vor allem im Niveau der zweit- bis sechstbesten Leistung im Nominierungszeitraum widerspiegelt. Diese stabil abrufbaren Leistungen liegen aber etwas unter dem Niveau der Spitzenleistung. Eine ständige Jagd nach einer doppelt zu erfüllenden Norm, verbunden mit einer entsprechenden Trainingsgestaltung, würde die Möglichkeit einer erneuten Steigerung zum Höhepunkt reduzieren. Die WM-Ergebnisse 2011 haben uns in diesen Überlegungen recht gegeben: Unsere Leistungsträger haben sich in Daegu stark präsentiert, wir hatten kaum Enttäuschungen oder Ausfälle. Viele haben Bestleistungen oder Saisonbestleistungen erzielt.
Geraten Sie eigentlich unter Druck beim Gedanken an Ihre ersten Olympischen Spiele in verantwortlicher Position? Immerhin hagelte es ja nach den beiden bislang letzten Spielen in Athen und Peking öffentliche Kritik auf den Leistungssport im DLV.
Thomas Kurschilgen:
Natürlich gibt es das öffentliche Anspruchsdenken, das sich ausschließlich auf Medaillen fixiert. Ich trage zwar eine Art politische Verantwortung für das Gesamtergebnis, aber die Leistung der einzelnen Athleten wird in der Zusammenarbeit von Trainern, Athleten und unseren Wissenschaftspartnern entwickelt. Und auch wenn die Leistung des Athleten zu den Olympischen Spielen perfekt realisiert wird: Eine Erfolgsgarantie für Medaillen oder vordere Platzierungen ist das noch nicht. Denn das Abschneiden hängt immer auch von der Leistungsdichte ab, die in der Leichtathletik so hoch wie in keiner anderen Sportart ist. Erfolg ausschließlich an Medaillen zu messen, entwertet die Leistung des Einzelnen und ist unter sportfachlichen Gesichtspunkten fahrlässig.
Idriss Gonschinska:
Man kann Druck als Druck von außen betrachten, der die Leistung hemmt, aber auch als motivierende Herausforderung. Wir arbeiten viel mit unseren Athleten und Psychologen, die Wettkampfsituation bei einer WM oder Olympia nicht als Drucksituation, sondern als Herausforderung anzunehmen. Und gerade unseren jungen Athleten ist das zuletzt außerordentlich gut gelungen. Dabei hilft natürlich auch der Teamgeist, den wir mit den verschiedensten Maßnahmen das ganze Jahr über entwickeln.
Zum ersten Mal finden kommenden Sommer vor Olympia Europameisterschaften statt. Was bedeutet das für die Saisonplanung der Athleten?
Idriss Gonschinska:
Das heißt zunächst, dass alle europäischen Athleten vor der ganz neuen Herausforderung stehen, ein Jahr mit drei internationalen Höhepunkten zu planen. Die Hallen-WM in Istanbul, die EM in Helsinki und schließlich Olympia in London. Die Termindichte hat zur Folge, dass die Zeiträume, in denen die Athleten sich qualifizieren können, viel kürzer sein werden als 2011. Für viele Deutsche wird die EM in Helsinki die letzte Möglichkeit sein, die Norm für Olympia zu erzielen. Deshalb ist die EM ein wichtiger Wettkampf, aber nicht der Höhepunkt des Jahres, was auch daran abzulesen ist, dass es vor der EM im Gegensatz zu Olympia keine teambildenden Maßnahmen geben wird. Die Athleten werden vergleichbar zu einem Meeting individueller an- und abreisen. Der DLV wird aber mit einer sehr großen und leistungsstarken Mannschaft an den Start gehen.
Wie wird die Mannschaft für die EM nominiert?
Idriss Gonschinska:
Am 13. Dezember veröffentlichen wir die Normen. Dabei wird es in vielen Disziplinen B-Normen geben, um vor allem jüngeren Athleten die Chance zu geben, in die A-Nationalmannschaft hineinzuwachsen, ohne gleich ein Kandidat für die ersten acht Plätze sein zu müssen. Auf der Basis der erweiterten Finalchance können sie hier Erfahrungen sammeln. Denn die werden sie bei späteren Höhepunkten brauchen, wenn sie eventuell zu Medaillenkandidaten gereift sind. Die endgültige Nominierung erfolgt dann unmittelbar nach den Deutschen Meisterschaften in Wattenscheid am 17. Juni.
Thomas Kurschilgen:
Der Zeitplan 2012 ist so eng, dass wir für die Hallen-WM in Istanbul nur einzelne leistungsstarke Athleten nominieren werden. Schließlich müssen im Mai schon wieder sehr hohe Leistungen realisiert werden.
Müssen alle DLV-Spitzenkräfte in Helsinki starten, oder würde der Verband auch einen EM-Verzicht akzeptieren?
Thomas Kurschilgen:
Dafür müssen schon gute Gründe vorliegen. Eine Nichtteilnahme bedarf der Genehmigung auf der Basis einer vorgelegten und mit den Cheftrainern abgestimmten Jahresplanung. Allerdings erkenne ich zum jetzigen Zeitpunkt überwiegend eine hohe Zustimmung bei Trainern und Athleten zu einem EM-Start.
Idriss Gonschinska:
Das gilt im Übrigen nicht nur für die Deutschen, sondern auch für die meisten anderen europäischen Nationen. Die EM ist für die Athleten ein wesentlicher Wettkampf für den Formaufbau Richtung Olympia. Beispielsweise ist es für Frankreichs Sprintstar Christophe Lemaitre gar keine Frage, ob er in Helsinki startet oder nicht. Er wird laufen.
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