Der perfekte Laufstil
Wer Spitzenläufer leichtfüßig rennen sieht, gerät ins Schwärmen. Nicht selten praktizieren Top-Athleten den Vorfußlauf. Für Breitensportler ist diese Art zu laufen in der Regel die falsche Wahl. Gesünder, leichter zu erlernen und auch effektiver ist das Mittelfußlaufen.
Mit der Ferse aufsetzen und sauber über die Fußsohle bis zu den gebeugten Zehen abrollen. So hat es das Gros der Freizeitläufer wohl einmal gelernt. Das natürlich in dick besohlten Laufschuhen – bestens gedämpft, versteht sich. Das alles ist nachzulesen in der umfangreichen Literatur zum Thema Laufen, die der gewissenhafte Neueinsteiger vor Aufnahme seiner sportlichen Aktivität aufmerksam studiert. Und auch in durchaus wettkampforientierten Sportvereinen wird diese klassische Langlauftechnik von kompetenten Übungsleitern nach wie vor als Standard gelehrt.So weit, so gut und zumindest aus orthopädischer Sicht weit besser als das bisweilen zu beobachtende Laufen auf den Vorderfüßen (Ballenlaufen), das eine Domäne der Sprinter und allenfalls Mittelstreckler bleiben sollte. Wegen der hohen kleinflächigen Druckbelastungen – das Mehrfache des Körpergewichts muss hier allein von den Fußballen abgefangen werden – sind bei längeren Läufen Beschwerden bis hin zu dauerhaften Überlastungsschäden geradezu vorprogrammiert.
Insbesondere Jogger, deren körperliche Konstitution nicht dem leichtgewichtigen afrikanischen Proportionsideal eines Haile Gebrselassie oder Paul Tergat entspricht, werden schnell schmerzhafte Probleme bekommen. Zudem ist diese Vorderfußtechnik aus ökonomischer Sicht alles andere als optimal. Die übermäßig beanspruchte Wadenmuskulatur ermüdet rasch, neigt zu Übersäuerung und Verhärtung. Nichts gehts mehr, heißt es dann all zu oft. Da bietet das klassisch komplette Abrollen von der Ferse bis zu den gebeugten Zehen doch weit mehr Komfort.
Im Leistungs- und Wettkampfbereich wird schon seit einigen Jahren eine andere Technik präferiert, die nach Ansicht von Orthopäden und Biomechanikern auch in den Breitensport Einzug halten sollte. Manch „knöcherne“ Probleme, die schon den einen oder anderen Jogger zum Pausieren, wenn nicht gar zur völligen Aufgabe seines langläuferischen Engagements zwangen, ließen sich vermeiden. Gelenkentlastung durch so genanntes Mittelfußlaufen heißt der Schlüssel zum Erfolg.
Die Experten sprechen gar von einer kleinen Revolution im Laufsport, so überzeugend seien die vielfältigen Vorzüge. Prinzipiell ist diese Technik des Fuß-Aufsetzens nicht schwer zu erlernen – wäre da nicht die mitunter jahrzehntelange Gewöhnung an Althergebrachtes. Wer seit 30 Jahren den klassischen Abrollstil praktiziert, ihn individuell verfeinert, die notwendigen Reflexe und Muskelkoordinationen gelernt hat, kann zunächst schon etwas ins Straucheln geraten. Die Veränderung verfestigter Strukturen und Abläufe bereitet in allen Lebenslagen oft anfängliches Unbehagen. Im Falle der Lauftechnikumstellung hat dies physiologisch erklärbare Gründe. Aller anfänglichen Skepsis zum Trotz – ein Versuch ist allemal empfehlenswert. Neben der orthopädischen Entlastung winkt eine Ökonomisierung des Laufstils durch langsamere Muskelermüdung und, daraus resultierend, eine Leistungssteigerung bei gleichem Energieaufwand.
Die Praxis > Eines vorweg: Nehmen Sie sich Zeit! Eine Stilumstellung bedarf einer Reihe koordinativer und mechanischer Anpassungen, die nicht „ruckartig“ vonstatten gehen, sondern sich kontinuierlich ausbilden müssen. Mit ein oder zwei Trainingseinheiten ist es nicht getan. Ein wenig Geduld ist gefragt.
Beim klassischen Abrollen mit dem typischen Kennzeichen des Fersenaufsatzes wird das gesamte Körpergewicht vom schräg nach vorn gestreckten Bein aufgefangen. Dieser enorme Impuls wirkt direkt auf die Gelenkkette der unteren Extremität – auf Hüfte, Knie, und Sprunggelenk. In diesen knöchernen Verbindungsstellen bilden sich erhebliche Scherkräfte aus, die als Hauptverursacher für Abnutzung und Verschleiß anzusehen sind. Nicht umsonst betreffen über 90 Prozent der typischen Läuferbeschwerden eine oder mehrere dieser drei Gelenkstrukturen.
Was wissenschaftlich kompliziert klingt, ist in der Praxis gar nicht schwer zu erlernen. Dennoch sollten gerade hartnäckige „Gewohnheitstiere“ mit langer Fersenlaufroutine die Umstellung moderat angehen und sich die notwendige Zeit nehmen. Es sind doch einige physische Anpassungen erforderlich, die sich nicht von heute auf morgen vollziehen. Wer den Stilwechsel aber meistert, wird noch mit einem weiteren Bonus belohnt. Wie erwähnt, läuft ein großer Teil der Spitzenläufer auf „dem Mittelfuß“. In diesem Leistungsbereich zählt vor allem eines: Geschwindigkeit. Und die wird durch die neue Technik quasi automatisch forciert. Der Bodenkontakt ist erheblich kürzer und ersetzt das zeitaufwendige Abrollen. Somit erhöht sich die Schrittfrequenz und damit auch die Laufgeschwindigkeit ohne höheren Krafteinsatz. Auch wer nicht nach Siegen und Rekorden strebt, wird sich über ein wenig mehr „pace“ kaum beklagen.
Worauf es ankommt > Bei der Umstellung gilt es vorrangig, seine Konzentration auf das Aufsetzen des Fußes zu richten. Die übrigen Anpassungen im Bereich der Beuge- und Streckmuskulatur, und damit der Winkeleinstellungen in den Gelenken, vollziehen sich dann praktisch von selbst. Besonders auf drei Punkte ist beim Bodenkontakt zu achten.
- Statt allein die Ferse als primäre Kontaktstelle aufzusetzen, bewusst auf der gesamten Fußsohle landen. Das entlastet und bringt die drei Gelenke der unteren Extremität in eine günstige, verschleißmindernde Winkelkonstellation.
- Auf eine glatte Landung achten, also nicht – wie vom Abrollen gewohnt – die Zehen anziehen.
- Das Knie möglichst weit nach vorn bringen, so dass das Bein im Moment des Aufsetzens bereits im Knie gebeugt ist.
All diese Anpassungen brauchen ihre Zeit und können anfangs auch mit einigen Unannehmlichkeiten wie „dicken“ Beinen oder leichten Muskelschmerzen verbunden sein. Wer diese Phase aber meistert, wird von den Vorzügen und der Effektivität des Mittelfußlaufens überrascht und wahrscheinlich auch begeistert sein. Dennoch gibt es die Ausnahmen, die sich nie mit dieser Technik anfreunden wollen oder können. Denn nicht jeder eignet sich für diesen Laufstil. Einen Zwang sollte sich niemand antun.
Wer kann umsteigen? > Im Prinzip kann jeder, der zum „normalen“ Abrolljoggen (Fersenlaufen) in der Lage ist, auch das Mittelfußlaufen erlernen. Dazu bedarf es keiner besonderen Leistungsstärke oder gar Wettkampffitness. Dennoch hat jeder Mensch seine genetisch festgelegten und individuell gefärbten morphologisch/anatomischen Eigenheiten. Bei ausgeprägten Fuß- oder Beinfehlstellungen etwa, die Probleme im Ballenbereich oder an Sehnen und Mittelfußknochen begründen, kann es langfristig zu Beschwerden kommen. In solchen Fällen ist vom Mittelfußlaufen abzuraten, da die angeborenen Vorgaben zu ungünstig sind und Therapien kaum Erfolg versprechen. Generell reagiert aber jeder Fuß anders – von vornherein ausschließen kann man daher niemanden. Wer willig ist, muss es einfach Ausprobieren. Nach den bisherigen Erfahrungen kommt aber das Gros der Aktiven – auch im Freizeitsportbereich – nach entsprechender Eingewöhnungszeit und gegebenenfalls unter kompetenter Anleitung in den Genuss der beschriebenen Vorzüge.
Die Materialfrage > Wie sieht es mit dem Schuhwerk aus? Muss ich meine alten „Treter“ in die Ecke schmeißen, wenn ich mich fortan auf Mittelfüßen fortbewegen möchte? Ich muss sicher nicht, sollte aber beim nächsten Schuhkauf andere Prioritäten setzen. Die für das klassische Abrolllaufen so wichtigen Dämpfungseinheiten im Fersenbereich verlieren beim Mittelfußlaufen einen wichtigen Teil ihrer Funktion. Umso bedeutsamer wird dagegen eine gute Dämpfung im mittleren Bereich, die ein stabiles Aufsetzen am Boden gewährleistet. Die Sohle sollte gerade auf dem Untergrund aufliegen und möglichst große Seitenstabilität mit geringen Bewegungsamplituden nach außen und innen (Schutz vor dem Umknicken) bieten. Zusammengefasst zeichnet sich der „Mittelfußschuh“ also durch zwei Charakteristika aus:
- geringe Stütz- und Polsterfunktion im Fersenbereich
- Konzentrierung multidirektionaler Stützelemente im Mittelfußbereich.
Hoffnung für „Lädierte“ > Eine kürzlich durchgeführte (nicht repräsentative) Umfrage mag dem einen oder anderen schmerzgeplagten „Joggingopfer“ Mut machen. So berichteten einige leidgeprüfte „Probanden“ von einer erheblichen Besserung des Beschwerdebildes nach Umstellung auf die Mittelfußtechnik. Gelenkprobleme – Hüfte sowie Knie/Meniskus wurden besonders oft genannt – ließen sich deutlich reduzieren oder verschwanden sogar. Gegenteilige Fälle, also die Verschlechterung bestehender oder ein Neuauftreten bisher nicht gekannter Beschwerden, gab es in der befragten Gruppe nicht. Dass es dennoch einige, meist alt gediente „Recken“ mit jahrzehntelanger Laufhistorie, bei dem Umstellungsversuch beließen und der Fersentechnik treu blieben, lag fast immer an der Liebe zum Bewährten und dem Unbehagen, das jeden anfangs bei der Abkehr von Gewohntem befällt. Anatomische Eigenheiten wurden nur selten als Grund genannt. Die Aussicht auf Wettkampferfolge durch höheren „speed“ war diesen „Verweigerern“ nicht Verlockung genug.
Ein guter Rat > Die abschließende Empfehlung für alle Neugierigen kann nur lauten: Probieren Sie es aus. Lassen Sie es behutsam angehen und sich gegebenenfalls kompetent anleiten. Geben Sie ihrem Bewegungsapparat ausreichend Zeit für die erforderlichen Anpassungsprozesse. Und sollte es dann trotzdem nicht passen, bleibt immer noch der Rückzug zum Gewohnten.
Dr. Stefan Graf