Derartu Tulu, die Dauer(b)rennerin über 10.000 m
Sie ist die Vorläuferin, das Vorbild für Äthiopiens Frauen. Derartu Tulu zählt zu den erfolgreichsten 10.000-Meter-Langstrecklerinnen aller Zeiten. Sie war zwei Mal Olympiasiegerin, WM-Zweite, und heute betritt sie als Titelverteidigerin das "Stade de France". Mit fünf Hundertstel Vorsprung hatte sie anno 2001 in Edmonton die Goldmedaille gewonnen. Knapp geschlagen, mussten sich ihre beiden Kolleginnen aus dem Nationalteam, Berhane Adere und Gete Wami, mit Silber und Bronze begnügen. Derartu Tulu, die "Dauer(b)rennerin", ist heute allerdings nicht die große Favoritin. Doch sollte man sie bloß nicht unterschätzen.
Deartu Tulu
Was hat sie nicht schon alle erlebt in ihrer nicht enden wollenden Karriere! Derartu Tulu denkt immer wieder gern zurück an das Jahr 1992. Damals sorgte sie auf den staubigen Straßen von Addis Abeba für eine Riesenfête, denn die Menschen dort waren außer Rand und Band. Schon auf dem Flughafen bereiteten sie ihr einen rauschenden Empfang nach der Rückkehr aus Barcelona, wo sie ein grandioses Kapitel in der Leichtathletik-Geschichte geschrieben hatte. Als erste Schwarzafrikanerin überhaupt gewann sie das begehrte Olympia-Gold. In einem packenden 10.000-Meter-Finale hatte Tulu ihre Konkurrentin Elena Meyer, deren Land Südafrika nach jahrelangem Bannstrahl erstmals an Olympischen Spielen teilnehmen durfte, im Spurt nieder gerungen. Bewegende Bilder gingen hinterher um die Welt: Tulu und Meyer, die eine mit dunkler, die andere mit weißer Hautfarbe, vereint auf der Ehrenrunde, feierten ausgelassen den Medaillensegen.Deartu Tulu als Vorbild
In ihrer Heimat ist Derartu Tulu ähnlich populär wie die Heroen Abebe Bikila, Mamo Wolde, Miruts Yifter oder Haile Gebrselassie, die ebenfalls Gold geholt haben. Sie ist ein Vorbild", erzählte Dr. Woldemeskel Kostre, der Nationalcoach von Äthiopien, insbesondere für den Nachwuchs." Die jungen Mädchen träumen davon, so zu werden wie sie. So schnell und so erfolgreich. Weltrekorde aufstellen, die Welt erobern. Sie sind mittellos und werden getragen von ihrem Ehrgeiz, denn sie wollen raus aus Äthiopien, dem größten Land Ostafrikas, das Mitte der achtziger Jahre noch von einer fürchterlichen Hungerkatastrophe gebeutelt wurde.
Derartu Tulu, auch eine überaus erfolgreiche Crossläuferin mit drei Einzeltiteln bei Weltmeisterschaften, ist bereits zu Lebzeiten eine Legende, die jetzt in Paris ihre Erfolgsstory fortsetzen möchte. Ich bin noch genauso ehrgeizig wie früher", sagte sie, "auch wenn der Sport nicht mehr die absolute Hauptrolle in meinem Leben spielt." Eine schmerzhafte Knieverletzung, zugezogen beim Boston-Marathon 1997, hatte ihr eine unfreiwillige Wettkampfabstinenz beschert. Weil mir mein Arzt eine lange Pause verordnete, habe ich damals die Familienplanungen voran getrieben." Im Spätsommer 1998 gebar sie eine Tochter mit dem Namen Tion, die heute ihr ganzer Stolz ist.
Auch als Mutter nicht ohne zu laufen
Aber ein Leben ohne zu Laufen konnte sich Derartu Tulu nicht vorstellen. Mit eisernem Willen hat sich das zierliche Persönchen, das bei 1,55 Meter Körpergröße ganze 44 Kilo auf die Waage bringt, wieder hoch gekämpft. "Derartu hat in ihrem Lebens nichts geschenkt bekommen", betonte Dr. Woldemeskel Kostre, "und sich alles hart erarbeiten müssen." Aufgewachsen ist sie als siebtes von zehn Kindern in Bokoji, einem kleinen Nest in der Region Arsi, wo auch Haile Gebrselassie groß geworden ist. Ihr Vorname bedeutet in der Sprache der Einheimischen so viel wie Blume, die von den Bergen kommt".
Die Berge oben im Hochland des Nilquellengebiets liegen auf einem Niveau deutlich über 2000 Metern. Während die Europäer sich für einige Wochen in Davos oder St. Moritz aufhalten, um in dünnerer Luft die Produktion von roten Blutkörperchen anzuheizen und dadurch mehr Sauerstoff aufnehmen zu können, ist sie stets im Höhentraining, was natürlich von unschätzbarem Vorteil ist. Auch beruflich muss sich Derartu Tulu, die in ihrer Jugend zunächst Schafe gehütet hat, keine Sorgen machen. Mit siebzehn erhielt sie eine Anstellung bei der Polizei. Unmittelbar nach ihrem Triumph in Barcelona wurde die Nationalheldin prompt zum Major befördert. Dienst nach Vorschrift ist momentan allerdings nicht angesagt, höchstens Training nach Anweisung. Meist läuft sie im Nationalstadion von Addis Abeba oder auf der einstigen Pferderennbahn Jan Mede oder in Entoto, einige Kilometer hinaus vor der Hauptstadt.
Ihre vierte Olympia-Teilnahme steht bevor
Der Sport ist für sie zum Full-Time-Job geworden. Athen lässt grüßen! Das wären dann meine vierten Olympischen Spiele", erzählte die 10.000-Meter-Spezialistin (Bestzeit: 30:17,49 min), die neben ihren beiden Erfolgen in Barcelona 1992 und Sydney 2000 auch noch Vierte war in Atlanta 1996. Dann würde für mich ein Traum ein Erfüllung gehen."
Neben der Kunststoffbahn lockt auch die Straße. Marathon heißt das Zauberwort. Denn Derartu Tulu läuft zweigleisig. Auch auf hartem Asphalt zählt sie zur absoluten Weltspitze. 2001 beispielsweise gewann sie das prestigeträchtige Rennen von London in 2:23:57 Stunden. Da machte sie gute Kasse. Doch finanziell ist sie ohnehin abgesichert. Denn daheim in Addis Abeba unterhält sie ein Hotel mit mehreren Angestellten, die heute Abend gebannt vorm Fernseher hocken werden, um ihrer Chefin tatkräftig die Daumen zu drücken.