Die erste Goldmedaille geht an... die Zuschauer
Seit Stunden regnet es in Strömen, selbst die aufgespannten Schirme bieten nur noch wenig Schutz. Zudem ist es kalt. Doch es scheint, als würden die Zuschauer, von denen mehr als die Hälfte nicht unter dem berühmten Münchner Zeltdach sitzt, das alles nicht mehr mitbekommen. Mit glitzerndem Staunen in den Augen klatschen sie ununterbrochen, schreien, johlen und pfeifen. Letzteres allerdings nicht, weil ihnen das Dargebotene missfällt, sondern einzig und allein, weil sie den gewaltigen Geräuschpegel nicht anders zu übertreffen wissen.
Heizen gewaltig ein!: der ENFC.
Das Publikum macht die 18. Auflage der Leichtathletik-Europameisterschaften bisher zu etwas ganz Besonderem. 29.000 fanden bereits am ersten Wettkampftag den Weg in die große Schüssel mit dem Beduinendach, sogar 41.300 am Tag danach. Für einen Werktag, noch dazu bei diesen Bedingungen ein niemals erwartetes Ergebnis - in der Fußballstadt München gleich gar nicht. Doch „Munich meets Europe“ braucht den Vergleich mit den bisherigen Fan-Festspielen in Stuttgart 1986 und 1993 nicht zu fürchten.Der ENFC fühlt sich wie in Götzis
Christoph Hallmann ist jedenfalls restlos begeistert. „Mit solch einer Stimmung hatte ich wirklich nicht gerechnet“, zeigt sich der Teilnehmer am Zehnkampf bei den Juniorenmeisterschaften in Jamaika von der packenden Atmosphäre beeindruckt. Um Hallmann herum sitzen weitere vier C-Kader-Athleten, die sich bei den letzten deutschen Meisterschaften verabredet hatten, Europas Elite in München stimmgewaltig zu unterstützen. Schließlich wissen sie aus eigener Erfahrung, wie viel leichter einem ein harter Mehrkampf mit der richtigen Unterstützung fällt. Gerade deshalb versuchen sie, möglichst authentisch mit ihren Vorbildern zu leiden: Vom 100-Meter-Lauf, Mittwoch früh um 9.30 Uhr, bis zur erlösenden 1.500-Meter-Qual am Donnerstag um 21.30 Uhr.
Mit den Profi-Zehnkampf-Fans kann allerdings auch der vielversprechende Nachwuchs nicht mithalten. Dem Olympiasieger Erki Nool folgt seit den Weltmeisterschaften 1997 in Athen eine Schar von enthusiastischen Esten. „Diesmal sind wieder weit über 100 mit dabei“, sagt der Präsident des Erki-Nool-Fan-Clubs (ENFC), Juri Tiitus. „Wir alle planen unseren Urlaub nach Erkis Wettkämpfen – und zahlen alles selbst.“ Mit Fähre, Flugzeug und Bus reiste der bunte Tross an, „aber wenn es nicht anders ginge, würden wir ihm sogar zu Fuß folgen.“ Juri Tiitus, der die internationale Leichtathletik seit 15 Jahren verfolgt, macht vor allem dem Münchner Publikum ein großes Kompliment: „Die beste Stimmung herrscht immer noch beim Mehrkampf-Meeting in Götzis, aber was hier los ist, kommt dem schon sehr nahe.“ Dafür sorgen schon seine Club-Mitglieder, die diesmal die gewohnten grellgelben T-Shirts gegen schmucke Jerseys von Erki Nools Ausrüster tauschten.
Stimmung „vom Feinsten“, selbst unter Mülltüten
Von einer gänzlich anderen Sportart kommt dagegen Andreas Unger. Normalerweise unterstützt er die Eishockeymannschaft der Nürnberg IceTigers. Aber, wenn so ein Sportereignis quasi vor der Haustür stattfindet, kann er nicht anders, als den Mangel an Körperkontakt bereitwillig zu übersehen. „Die Stimmung hier ist einfach vom Feinsten“, meint auch der Urfranke. Das Wetter kann Unger, der sonst die komfortable Arena Nürnberg gewohnt ist, dabei nichts anhaben: „Es kann gar nicht so viel regnen, dass uns die Mülltüten ausgehen.“
Einen ungleich weiteren Weg in die „Weltstadt mit Herz“ hatte die Familie Mattila aus dem finnischen Lahti. „Für uns ist das hier Urlaub“, sagt Reijo Mattila, der mit Frau Eija und Tochter Anne schon in Edmonton die Athleten aus dem Land der tausend Seen unterstützte. Nur zwei Reihen weiter sitzt Antonín Brabec schwer grübelnd über einen Berg von Computerausdrucken gebeugt. Der Tscheche hatte sich akribisch auf den Zehnkampf vorbereitet. Von diversen Websites und Newsgroups lud er sich sämtliche Informationen über seine Landsleute Roman Sebrle und Tomás Dvorak herunter, um ja auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein.
Gold geht an die Fans
„Voll ausgerüstet“ sind auch die Götten-Schwestern, die aus Annweiler angereist sind. „München ist einfach ein Muss“, meint Kerstin und Heike fügt an, sich 1986 in Stuttgart mit dem „Leichtathletik-Virus“ infiziert zu haben. Am Samstag werden die beiden wieder in ihre pfälzische Heimat zurückkehren – den Sonntag konnten sie sich nicht mehr leisten. Eigentlich müsste ihnen, sowie den zahllosen anderen „Hardcore-Fans“, spätestens dann die Goldmedaille verliehen werden.