Die Landkarten der Carolin Hingst
Carolin Hingst reist gerne. Die Stabhochspringerin ist während der Saison nur selten mehr als zwei Tage zuhause. In diesem Jahr ist sie bereits viel rumgekommen. Die Mainzerin war etwa in der Ukraine und Katar, um ihrem Job nachzugehen. Jetzt ist sie in Osaka (Japan) zur Weltmeisterschaft. Nachdem ihr Job dort aber ein ganz besonderer ist, braucht es nicht nur eine geographische Landkarte, um überall hinzufinden, sondern auch eine sportliche, um dort gut zu landen.

Carolin Hingst schaut gerne in die Ferne (Foto: Kiefner)
"Meine Stabhochsprung-Landkarte steht jetzt", sagt sie. Nur drei Dinge hat Carolin Hingst dort eingezeichnet. Diese Dinge verrät sie aber nur auf Nachfrage. "Angreifen" steht da, "Immer schneller werden" steht da auch und außerdem noch "Dynamischer aufrollen". Damit wird es schon recht spezifisch.Und für diese spezifischen Dinge ist Trainer Andrei Tivontchik, zu dem sie im vergangenen Sommer vom Mainzer DLV-Disziplintrainer Herbert Czingon gewechselt ist, zuständig. Auf den Olympia-Dritten von Atlanta (USA), der in Zweibrücken noch hoffnungsvolle Athleten wie Kristina Gadschiew, Natascha Benner und Raphael Holzdeppe um sich schart, hält Carolin Hingst große Stücke. "Ich vertraue ihm zu hundert Prozent. Er hat Ahnung, ein sehr gutes Auge. Ich lasse meinen Trainer denken und ich mache."
"Anders als alle anderen"
Wer selbst so anpacken muss, braucht Geradlinigkeit. Dazu passt, dass die 26-Jährige ein klares Bild von sich selber hat. "Ich bin anders als alle anderen", meint sie, "eine Frau mit Erfahrung. Ein sehr direkter Mensch. Wenn etwas nicht in Ordnung ist, dann sage ich es." Keine Frage, in der Sportsoldatin steckt eine Menge Power. Sie geht gerne tanzen oder zu Spielen des FSV Mainz 05, wo sie auch schon einmal von der Stimmung angesteckt laut wird.
Solche Power kann sie auch in ihrem Sport wahrlich gut gebrauchen. Schließlich soll es hoch hinaus gehen. 4,61 Meter ist Carolin Hingst in diesem Sommer schon gesprungen, fünf Zentimeter unter ihrer Freiluft-Bestleistung aus dem Olympiajahr 2004 geblieben.
Sie sagt: "Man muss im Wettkampf über sich hinauswachsen." Am liebsten würde sie das auch in diesen Tagen bei der Weltmeisterschaft in Osaka. "Caro", wie sie gerne genannt wird, hat ein Ziel definiert. Bei ihrer vierten WM-Teilnahme will sie besser abschneiden als 2001 in Edmonton (Kanada) und 2005 in Helsinki (Finnland), wo sie jeweils Zehnte war. Auch ihre Meisterschaftsbestleistung von 4,45 Metern, gesprungen vor zwei Jahren in der Qualifikation, will sie toppen. Der Begriff "WM-Bestleistung" gefällt ihr.
Ordentliche WM machen
Vor allem möchte sie aber eines: "Ich will zwei ordentliche Wettkämpfe machen." Was mit einschließt, dass die Qualifikation am Sonntag als eigener Wettkampf zählt und sie diese Hürde nimmt. Zweifel daran lässt Carolin Hingst nicht aufkommen.
Vielmehr verweist sie darauf, dass ihre Zubringerwerte genau da sind, wo sie auch sein sollen, dass sie in den letzten Wochen eben ordentliche Sprünge gemacht habe. So kam sie auch zu Meetingsiegen in Saragossa (Spanien) und Leverkusen mit jeweils 4,57 Metern.
Hinter diesem Leistungsvermögen, das die deutsche Hallen-Rekordhalterin (4,70 m) zeigt, steckt viel harte Arbeit. Eine Begabung für diesen spektakulären Sport wurde ihr nämlich nicht in die Wiege gelegt: "Talent ist nicht soviel da, aber Arbeit ganz, ganz viel." Sie kam einst vom Tennis und Kunstturnen zum Stabhochsprung und trumpfte dann 2001 als Deutsche Vize-Meisterin kometenhaft auf. Den Quantensprung, der ihr damals hin zu einer Höhe von 4,50 Metern gelungen war, habe sie erst zwei Jahre später realisiert.
Erwachsen geworden
Doch die Carolin Hingst von damals ist mit der von heute nicht mehr zu vergleichen. Herbert Czingon habe ihr während der gemeinsamen Zeit in Mainz einmal attestiert, dass sie erwachsen geworden sei. Die Athletin selbst bringt das auf den Punkt: "In den letzten Jahren hatte ich den Drang, dass ich etwas alleine machen will. Neue Herausforderungen haben mir Spaß gemacht. Ja, es stimmt, in Mainz bin ich erwachsener geworden. Es war eine Entwicklung von Jahr zu Jahr."
Ein Ergebnis dieser besonderen Entwicklung ist dabei auch, dass Carolin Hingst mehr denn je den Reiz und den Drang spürt, die große, weite Welt kennenzulernen. Der Sport gibt ihr momentan die Gelegenheit dazu. "Ich sehe die Welt live. Ich will selber überall gewesen sein. Um das zu bekommen, stecke ich woanders zurück." Sie zieht es hinaus in die Ferne. Vorstellen, ein Haus zu bauen und dort fünfzig Jahre lang zu leben, kann sich die aus Bayern stammende Stabhochspringerin nicht.
Lieber schaut sie auf Landkarten. Macht welche. Am liebsten zwei, eine für sich als Sportlerin und eine für sich als jemand, der gerne um die Welt tingelt, Doha, Südafrika und Marokko als Reisetipps auf Lager hat und noch sehr viel mehr kennenlernen möchte. Wenn es dabei auch noch hoch hinaus gehen kann, dann ist dagegen erst recht nichts einzuwenden. Warum eigentlich nicht gerade jetzt in Osaka?