20.10.2008

Die neuen Cheftrainer im Interview

Anja Herrlitz

Rüdiger Harksen und Herbert Czingon sind das neue Cheftrainer-Duo im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV). Im Interview sprechen sie unter anderem über die derzeitige Situation der deutschen Leichtathletik, ihre Ziele und wie sie ihre Aufgaben als Cheftrainer sehen.

Herr Czingon, Herr Harksen, vor kurzem wurden Sie zu den neuen Cheftrainern im Deutschen Leichtathletik-Verband ernannt. Wie sehen Sie die derzeitige Situation der deutschen Leichtathletik? Herbert Czingon:
Nach den Olympischen Spielen in Peking muss man da eine zweigeteilte Antwort geben. Wenn man sich die einzelnen Athleten anschaut, hatten wir dort durchaus akzeptable Leistungen. Aber wir hatten wenige gute, überraschende Leistungen und wir hatten vor allem nur wenige exzellente Ergebnisse. Nur wenige Athleten konnten bei den Olympischen Spielen im Finale ihre Jahresbestleistung bringen. Wir wissen aus den Analysen aber, dass genau solche Leistungen letztlich zu den Medaillen führen. Dazu kam, dass bereits im Vorfeld der Olympischen Spiele das bis dahin entwickelte Leistungsniveau schon nicht mehr für eine Medaillenchance ausgereicht hat. Rüdiger Harksen:
Gleichzeitig müssen wir aber auch sagen, dass die deutsche Leichtathletik besser dasteht, als das Ergebnis von Peking vermuten lässt. Wir hatten im Jahr zuvor eine sehr erfolgreiche Weltmeisterschaft und die Athleten, die dort gute Ergebnisse erzielt hatten, stehen nach wie vor zur Verfügung. Das Athletenpotenzial ist durchaus vorhanden. Natürlich muss man das Ergebnis von Peking ernst nehmen, aber man sollte nicht sagen, es ist der Gradmesser für den Zustand der deutschen Leichtathletik. War das Ergebnis von Peking denn so schlecht, wie es allgemein dargestellt wird? Einige Athleten waren nah an einer Medaille dran... Herbert Czingon:
Aber man fährt zu den Olympischen Spielen, um eine Medaille zu gewinnen. Und da sind unsere Vorstellungen nicht erfüllt worden. Es ist übrigens irritierend, und das war auch bei anderen Olympischen Spielen schon so, dass wir dort meist weniger erfolgreich sind als bei vorangegangenen Weltmeisterschaften. Ob das reiner statistischer Zufall ist oder ob wir die Athleten mit zu hohen Erwartungen belasten - wir wissen es nicht. Vielleicht steigt in einem Olympischen Zyklus auch der Erwartungsdruck, so dass sich am Ende zu den Olympischen Spielen Verletzungen häufen, wie es auch in diesem Jahr war. Gibt es da Gespräche mit Athleten und Trainern bezüglich dieser Thematik? Herbert Czingon:
Wir versuchen natürlich, dies im Einzelfall aufzulösen. Wir waren bisher ja sehr stolz auf die Ergebnisse unseres verbesserten Gesundheitsmanagements, haben uns aber dieses Jahr eines Besseren belehren lassen müssen. Rüdiger Harksen:
Es gibt aber natürlich immer individuelle Gründe, die es aufzuarbeiten gilt. Man kann nicht pauschal sagen „das Gesundheitsmanagement“ und dass viele nachlässig gearbeitet haben. Bluthochdruck bei Franka Dietzsch ist etwas anderes als Achillessehnenprobleme bei Kirsten Bolm. Viele Probleme können beim besten Gesundheitsmanagement auftreten. Ich glaube schon, dass die Philosophie, dass die Gesundheit das größte Gut der Athleten ist, sowohl bei den Sportlern als auch bei den Trainern fest in den Köpfen verankert ist. Dass Verletzungen in diesem Jahr gehäuft auftraten, ist sicherlich auch etwas Pech gewesen. Welche Ziele haben Sie sich als Bundestrainer für die anstehende Heim-WM im kommenden Jahr und die nächsten Olympischen Spielen 2012 gesetzt? Herbert Czingon:
Die Zielsetzung muss ganz eindeutig dahin gehen, dass wir unsere Stärken so zum Einsatz bringen, wie wir das in den vergangenen Jahren immer konnten. In meinem Bereich der technischen Disziplinen ist dies speziell der Wurf. Dort müssen wir wieder den Ton angeben. Im technischen Bereich wollen wir ganz definitiv wieder Medaillen gewinnen. Um dorthin zu kommen, müssen wir in jedem Einzelfall aufdröseln, wo noch Defizite sind. Aber auch in einigen Sprungdisziplinen und dem Mehrkampf sind Medaillen keine Utopie. Rüdiger Harksen:
Im Laufbereich können wir diese Medaillendichte wahrscheinlich nicht erwarten, aber wenn wir uns nicht vornehmen, wieder Medaillen zu gewinnen, dann wären wir schlecht beraten. Wir hatten beispielsweise bei den Olympischen Spielen zwei Staffeln, die Fünfte waren. Da ist es nicht träumerisch, dass auch einmal eine Medaille möglich ist. Auch Irina Mikitenko hat in diesem Jahr den Berlin-Marathon in einer Zeit gewonnen, die nur drei Läuferinnen je unterboten haben. Hätte sie das in Peking gezeigt, würden wir den Laufbereich jetzt ganz anders bewerten. Auch wenn es im Sprint-Lauf-Bereich schwierig wird, müssen wir uns am Welt-Spitzenniveau orientieren und dort im Anschlussbereich an die Medaillen bleiben.Gehen Sie davon aus, dass die Heim-WM im kommenden Jahr noch einmal zusätzliche Kräfte freisetzt und dadurch das Ergebnis schon ganz anders aussehen kann?

Herbert Czingon:
Auf was ich im kommenden Jahr zähle ist, dass sich einige Athleten, vor allem ältere, die nach der WM ihre Karriere beenden wollen, 2009 noch einmal voll auf den Sport konzentrieren werden, um sich perfekt auf Berlin vorzubereiten. Hinzu kommen junge Athleten, wie Hochspringerin Ariane Friedrich, die in Peking bereits eine Medaillenchance hatte. Neben den gesundheitlichen Problemen, die sie hatte, war sicherlich aber auch der Druck bei ihrer ersten großen Meisterschaft sehr groß. Auch internationale Analysen zeigen, dass der erste große Auftritt in einer technischen Disziplin meist nicht erfolgreich ist. Im kommenden Jahr wird Ariane Friedrich in Berlin aber schon ein ganz anderes Standing haben. Rüdiger Harksen: Die WM im nächsten Jahr in Berlin wird höchstwahrscheinlich die einzige WM für unsere Athleten sein, die sie im eigenen Land erleben. Ich glaube, dass das unglaubliche Energie freisetzen kann. Schon allein das Wissen, in ein Stadion zu gehen, in dem viele der Zuschauer wegen der deutschen Athleten gekommen sind, ist eine ungeheure Motivation. Darauf müssen wir unsere Athleten vorbereiten. Rüdiger Harksen will die deutschen Athleten öfter im Ausland sehen (Foto: Chai) Wie kann eine solche Vorbereitung aussehen? Rüdiger Harksen:
Wir müssen das Wettkampfmanagement unserer Athleten optimieren. Die Sportler brauchen internationale Erfahrung und wir müssen ihnen dabei helfen, dass sie mehr im Ausland starten können. Es nützt nichts, nur bei deutschen Meetings zu starten und sich dort als Star feiern zu lassen. Die Athleten müssen raus aus der Komfortzone und auch mal ohne ihren Trainer, der alles für sie regelt, selbständig zu einem Meeting fahren. DLV-Präsident Dr. Clemens Prokop hat zuletzt gesagt, es sei wichtig, dass der DLV seine Athleten besser steuern könne. Wie stellen Sie sich das vor?

Rüdiger Harksen:
Steuern heißt nach meiner Sicht nicht vorgeben im Sinne von anordnen, sondern die Umsetzung eines gemeinsam gefundenen Weges. Egal ob dies im Training, im Wettkampf- oder Gesundheitsmanagement ist. Für uns heißt es auch, dort Einflussnahme zu organisieren, wo sie zu besseren Ergebnissen führen kann. Bei manchen Systemen funktioniert es ja bereits hervorragend. Herbert Czingon:
Steuerung darf nicht so verstanden werden, dass wir eine Richtung vorgeben, die nicht gemeinsam entwickelt worden ist. Wir wollen beispielsweise dazu beitragen, dass die Wettkämpfe ausgesucht werden, von denen wir denken, dass sie den größten Wert in der Vorbereitung auf den Saisonhöhepunkt haben. Der Deutsche Leichtathletik-Verband hat mit Ihnen erstmals zwei Cheftrainer. Was denken Sie ist der Vorteil? Herbert Czingon:
Der Vorteil kann sein, dass wir uns spezifischer auf bestimmte Themen konzentrieren können. Im Wesentlichen ist es eine pragmatische Trennung. Wir können dadurch mehr bewältigen. Jürgen Mallow hält uns zudem als absoluter Topmann als Sportdirektor in der Sportpolitik den Rücken frei, so dass wir uns auf die Fragen der fachlichen Optimierung konzentrieren können. Rüdiger Harksen:
Was bisher ein Cheftrainer allein gemacht hat, ist nun auf drei Schultern verteilt. Herbert Czingon: Insofern muss man es auch ein bisschen anders sehen: Wir sind nicht zu zweit, sondern zu dritt. Wie sehen Sie selbst Ihre Aufgabe als Cheftrainer? Herbert Czingon:
Kommunikation ist ein absoluter Schlüsselbegriff. Wir sind sehr stark eingebunden in die Kommunikation zu Athleten, Heimtrainern und Bundestrainerkollegen. Wir versuchen, die Kommunikationsprozesse von unseren Disziplintrainern zu den Athleten und Heimtrainern zu optimieren, indem wir dort ganz bestimmte Strukturen mit beeinflussen. Ich persönlich versuche nicht, die Tätigkeit als Chef auszuüben, sondern ich versuche, alle zusammenzuhalten und ein Gemeinschaftsgefüge zu erzeugen wo es sinnvoll ist. Über diese Binnenkommunikation wollen wir die fachliche Qualität ständig verbessern. In einem fachlichen Erfahrungsaustausch zwischen den Trainern steckt für jeden ein Gewinn, jeder erhält mehr Handlungsalternativen. Meine eigene Aufgabe kann man wohl am ehesten als „Coach der Coaches“ charakterisieren. Das hat im Stabhochsprung bisher ganz gut funktioniert, warum sollte es nicht auch in den anderen Bereichen funktionieren? Rüdiger Harksen:
Ein wesentlicher Schwerpunkt ist nicht nur die Kommunikation, sondern auch die Nutzung unseres Potenzials. Wir haben gute und kompetente Trainer. Aber wir müssen mit unserem Know-How noch offensiver im Sinne von offen umgehen. Wir müssen uns mehr austauschen. Auch für einen Athleten ist es wichtig, zu wissen, es gibt nicht nur seinen Heimtrainer und den DLV, sondern hier ist eine Gruppe, die gemeinsam arbeitet. Ich sehe es auch als Teil meiner Arbeit, dort einzugreifen, wo das nicht funktioniert. Der Athlet muss das Gefühl haben, dass hinter ihm eine Mannschaft steht, die ihn fordert und fördert. Und das geht nicht nur mit einer E-Mail, da muss man hin und wieder vor Ort sein. Herbert Czingon:
Wir hatten bei der Trainertagung ein inspirierendes Referat eines Beraters aus der Industrie. In der Grundlagenforschung arbeiten auch konkurrierende Firmen bis zu einem gewissen Grad zusammen, in der Produktentwicklung handelt dann wieder jeder für sich. Ich sehe unsere Arbeit als Verbandstrainer auch so, dass wir diesen Austausch des Know-Hows vorantreiben. Jeder Trainer soll dadurch eine verbesserte Entscheidungsgrundlage in der Arbeit mit seinen Athleten erhalten. Es geht also für Sie darum, die Athleten und Trainer zusammenzubringen und weniger darum, in die einzelnen Disziplinbereiche selbst aktiv einzugreifen? Rüdiger Harksen:
Genau, für die direkte fachliche Arbeit sind die Disziplintrainer zuständig. Sollte in einem Disziplinbereich die Kommunikation einmal nicht stimmen, spielt es keine Rolle, ob wir Spezialisten im Gehen oder Hammerwerfen sind. Dann ist unser Engagement gefragt, Dinge anzusprechen, die über das Drehverhalten im Ring hinausgehen. Herbert Czingon:
Wir können nicht als Fachmann für jede einzelne Disziplin auftreten, aber wir können dafür sorgen, dass Kommunikationsprozesse in Gang kommen, wo sie nicht laufen. Ende Oktober steht der DLV-Lehrgang im portugiesischen Monte Gordo an. Wie werden Sie diesen nutzen? Rüdiger Harksen:
Dort sind wir eine Woche mit vielen der besten deutschen Athleten zusammen. Wir können sie im Training beobachten und uns mit ihnen und ihren Trainern austauschen. Dort können wir einen Schwerpunkt unserer Aufgabe wirklich realisieren. Ich freue mich darauf.