Die Sicht der Dinge – von Volkmar Mühl
Vor kurzem, am Pfingstwochenende (29./30.5.2004,) nahm die DLV-Nationalmannschaft an der Europameisterschaft im 100-Kilometer-Lauf in Faenza (Italien) teil, einem Klassiker des 100-Kilometer-Laufs, der auf einer Punkt-zu-Punkt-Strecke von Florenz nach Faenza ausgetragen wird. Sportlich gesehen war der Einsatz zwei Medaillen sowie insgesamt fünf Top-Ten-Platzierungen ein voller Erfolg. Die Veranstaltung wurde allerdings von einigen negativen Begleitumständen überschattet.
Volkmar Mühl, Verantwortlicher im DLV für den Bereich Ultramarathonlauf
Hauptkritikpunktpunkt ist die Gefährdung der Teilnehmer durch den öffentlichen Straßenverkehr. Wegen des Fehlens von Absperrungen kam es zu haarsträubenden Situationen mit Beinahe-Unfällen und tatsächlichen Kollisionen. Besonders unangenehm wurde es für die Teilnehmer nach Einbruch der Dunkelheit, als die Läuferinnen und Läufer, erst sehr spät im Scheinwerferlicht der teilweise rasenden Autos und Motorräder zu erkennen, unmittelbar den Risiken des typisch italienischen abendlichen bzw. nächtlichen Verkehrsgeschehens ausgesetzt waren. Es mutet grotesk an, dass eine internationale Meisterschaft unter solch unzumutbaren Bedingungen ausgetragen wird. Ein weiterer wesentlicher Kritikpunkt betrifft das Ignorieren wesentlicher Wettkampfbestimmungen und der Mangel an notwendigen diesbezüglichen Kontrollen durch den italienischen Leichtathletikverband (FIDAL), der die Kampfrichter lieber an den Verpflegungsstellen postierte, anstatt sie mobil auf die Strecke zu schicken. Wurde auf das Verbot von Auto- und Fahrradbegleitung in der Ausschreibung noch ausdrücklich hingewiesen, war von der Überwachung dieser Regel auf der Strecke nichts zu bemerken. So ließen sich – leider auch prominente - EM-Teilnehmer von Fahrradbetreuern begleiten und versorgen, andere zeigten keine Skrupel, sich die jeweiligen Wünsche unmittelbar aus dem mitfahrenden Auto heraus erfüllen zu lassen. Chancengleichheit? Kein Thema.
Kein Instinkt
Selbst die Siegerehrung geriet noch zum Ärgernis. Wegen angeblich nicht gelieferter Medaillen wurde auf eine Ehrung der EM-Teilnehmer vollständig verzichtet, eine Instinktlosigkeit, die bei den betroffenen Nationalteams zu fassungslosem Kopfschütteln führte.
Insider wundern sich allerdings nur noch bedingt über Mängel der beschriebenen Art. Die 100-Kilometer-EM 2003 in Chernogolovka (Russland) fand auf einer schlaglochübersäten Asphaltpiste statt, auf der bei uns kein Volkslauf durchgeführt würde. Bei der 24-Stunden-World Challenge in Uden (Niederlande) 2003, auf einer 2.500 Meter langen Runde ausgetragen, waren die Verantwortlichen ebenfalls nur bedingt willens oder in der Lage, die Einhaltung elementarer Wettkampfregeln zu gewährleisten.
Wer trägt Verantwortung?
Wer trägt die Verantwortung für derartige Missstände? Die internationalen Meisterschaften werden von der IAU als Veranstalter an die ausrichtenden nationalen Verbände vergeben. Dort sollte bekannt sein, worauf man sich einlässt. Im Falle Faenza 2004 handelte es sich um die 32. Auflage dieser Veranstaltung - die EM fand hier nach 1997 zum zweiten Mal statt.
Was ist zu tun? Die Verdienste der IAU für den Ultramarathonlauf sind unbestritten. Es scheint aber, als sei den Funktionsträgern ihre Verantwortung für die Gesundheit der Teilnehmer sowie eine den IWB entsprechende Durchführung der Wettkämpfe aus dem Blickfeld geraten. Wenn man sich schon entschied, die EM auf einer solchen Strecke auszutragen, musste die Erteilung klarer Auflagen sowie eine enge und intensive Kooperation mit dem örtlichen Organisator sowie der FIDAL im Vorfeld der Meisterschaft obligatorisch sein. Dass dies offensichtlich nicht in ausreichendem Maße der Fall war, offenbart die Notwendigkeit eines grundsätzlichen Umdenkens.
Maßnahmen zum Schutz
Teamleiter anderer Nationen haben jedenfalls die Absicht bekundet, an dieser Veranstaltung im Rahmen einer internationalen Meisterschaft zukünftig nur noch dann teilzunehmen, wenn im Vorfeld erkennbar ist, dass alle notwendigen Maßnahmen zum Schutz von Leben und Gesundheit der Sportler getroffen werden und die Einhaltung der Wettkampfregeln für alle verbindlich ist. Die DLV-Teamleitung teilt diese Auffassung.
Volkmar Mühl ist seit Jahresbeginn Verantwortlicher im DLV für den Bereich Ultramarathonlauf einschließlich der Leitung der 100 km und 24 h-Nationalmannschaften.
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