Die Team-EM kommt mit Zündstoff und Skepsis
Der Europacup hat ausgedient, es lebe die Mannschafts-Europameisterschaft. Annecy (Frankreich) bildet am Wochenende (21./22. Juni) die Abschiedsbühne für das bisherige Format des kontinentalen Teamvergleichs in der Leichtathletik. Der Europäische Leichtathletik-Verband (EAA) bereitet für 2009 eine Reform vor, mit der er mehr Dramatik und Spannung verspricht, aber mit der sich noch nicht alle anfreunden können.
„Es ist ein Umdenken erforderlich. Man wird eine neue Wettbewerbsform erleben“, stellt Jürgen Mallow, der Cheftrainer im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV), fest. Ganz entscheidend ist dabei, dass das Feld der Eliteliga von acht auf zwölf Nationen aufgestockt wird, außerdem fließen die Ergebnisse der Männer und Frauen nicht mehr in jeweils getrennte, sondern eine gemeinsame Wertung. EAA-Präsident Hansjörg Wirz ist überzeugt: „Ich habe keinen Zweifel, dass es für Athleten, Medien und Zuschauer ein großer Erfolg wird.“In der DLV-Zentrale in Darmstadt hat man auch schon Rechenexempel angestellt und ist zu einem Ergebnis gekommen. „Es wird zumindest spannender“, berichtet Jürgen Mallow in seiner ersten Einschätzung, „Wenn man irgendwo Schwächen und viele hintere Plätze hat, dann wird der Abstand nach vorne größer. Je ausgeglichener eine Mannschaft ist und je mehr Siegertypen man dabei hat, desto eher kann man den Vorsprung ausbauen.“
"Wohl einmalige Neuerungen"
Diskussions- und Zündstoff liefern die Regeländerungen, die mit der Europacup-Reform einhergehen sollen. Der Europaverband spricht von „wohl einmaligen Neuerungen“, von einer Modernisierung, die vor allem die Zuschauer im Stadion und an den Bildschirmen fesseln soll. Andererseits heißt es in einer Veröffentlichung nüchtern: „Die traditionellen Regeln für die Langstrecken und die technischen Disziplinen sind zu Gunsten von Spannung und Dramatik verändert worden.“
Doch wie wirkt es sich aus, wenn ein Hoch- oder Stabhochspringer insgesamt nur noch sieben Sprünge in einem Wettbewerb hat, ein Läufer vorzeitig als Letzter aus dem Rennen genommen wird oder im Wurf nach zwei verunglückten Versuchen schon die Tasche gepackt werden muss, weil das Feld halbiert wird?
Im Testbetrieb
Bei verschiedenen Meetings sind diese Neuerungen in diesem Sommer zum Testen freigegeben. Die russischen Läufer Nikolay Chavkin, Igor Komarov und Denis Pankratov mussten damit am vergangenen Wochenende im heimischen Zhukovskiy bereits Bekanntschaft machen, als sie sieben, fünf und drei Runden vor Schluss des 5.000-Meter-Laufs disqualifiziert worden sind.
In der nächsten Woche müssen die Dreispringer in Jerez (Spanien) schon ein wenig mehr als sonst mitdenken. Nach den ersten beiden Durchgängen dürfen nur noch sechs Athleten weitermachen. Vier davon schaffen es dann in die vierte und letzte Runde. In diesem Finale soll schließlich ein „Sudden Death“-Prinzip greifen, es zählen nur die Leistungen dort für das Klassement.
Taktisches Vabanquespiel
Das taktische Vabanquespiel wird im Hoch- und Stabhochsprung gefördert und gefordert. Nur noch sieben Versuche haben dann die Teilnehmer, diese müssen sie sich einteilen, um am Ende den höchsten Sprung abzuliefern. Es ist also denkbar, dass sich ein Stabakrobat alle Sprünge bis zum Schluss aufhebt, und nicht unwahrscheinlich, dass man den Wettkampf nach einem erfolgreichen Versuch beenden muss.
Der deutsche Stabhochsprung-Routinier Tim Lobinger kann sich damit nicht anfreunden. „Das führt ganz weit von dem weg, worum es eigentlich geht, um Rekorde und Bestleistungen. Wir haben schon solche Sachen ausprobiert, die Präsentationsform ist aber eher das Problem. Wenn ich sehe, was mit der Musik gemacht und wie ein Publikum mitgerissen werden kann, dann ist das viel entscheidender, als dass man sagt, den Letzten in einem Rennen beißen die Hunde. Man muss nicht das Regelwerk angreifen“, ist der Münchner überzeugt.
"Mal etwas anderes"
Zustimmend äußert sich die Europarekordhalterin im Speerwurf, Christina Obergföll (LG Offenburg). Sie sagt: „Grundsätzlich finde ich diese Neuerungen nicht gut. Ich glaube schon, dass die Leichtathletik neuen Schwung braucht, allerdings nicht durch Neuregelungen.“
Eine zumindest offene Position bezieht deren Disziplinkollegin, die Europameisterin Steffi Nerius. Sie will es auf den Versuch ankommen lassen. „Es wird eine Umstellung sein. Wir hatten etwas ähnliches auch schon in Bad Köstritz gemacht. Es ist sicherlich nicht einfach, aber mal etwas anderes“, meint die Leverkusenerin.
Dass die geplanten Reformen auf Vorbehalte unter den Aktiven treffen, kommt für sie nicht überraschend. „Bei jeder Veränderung spielt erstmal jeder verrückt und sagt: Das will ich nicht, ich möchte es so, wie ich es kenne.“
Wie reagiert das Publikum?
Die erfahrene Athletin will aber der neuen Wettbewerbsform die Chance geben, sich zu bewähren. „Wenn dadurch ein Hype entsteht und die Leute das gut finden, wird es einfach so sein, egal, ob es nun auch die Sportler gut finden. Um das ins Laufen zu bekommen, wäre es interessant zu sehen, wie das Publikum darauf reagiert. Man sollte ein wenig offener werden und die Reaktionen der Zuschauer wahrnehmen, anstatt egoistisch seinen Sport durchzuziehen“, meint Steffi Nerius.
Der Problematik und der Schwierigkeiten, die sich besonders durch die Disziplinreformen auftun, ist sich auch Jürgen Mallow bewusst. „Das findet nicht nur Zustimmung und es ist durchaus, wenn man klassisch an Leichtathletik denkt, eigenartig, weil es bedeutet, dass ein Stabhochspringer nach seinem siebten Sprung nicht mehr die Möglichkeit bekommen könnte, nationalen Rekord zu springen oder ein Läufer vorzeitig ausscheiden muss, obwohl er einen Rekord erzielen könnte.“
Der Europaverband wird, soviel zeichnet sich bereits ab, noch einiges an Überzeugungsarbeit leisten und weitere Überlegungen, nicht zuletzt hinsichtlich der stimmigen Präsentation und Transparenz von vierzig teils revolutionierten Disziplinen, anstellen müssen, um das neue Konzept zu einem Erfolgsrezept werden zu lassen. Denn am Ende soll es nämlich vor allem einen Gewinner geben: die Leichtathletik an sich.