Die Theorie der Leichtathletik - Ein Stiefkind
Mit dem Entstehen deutscher sportwissenschaftlicher Einrichtungen in den 1920er Jahren stieß auch die Leichtathletik sehr schnell auf akademisches Interesse. So galt sie von Beginn an als Grundsportart in der Sportstudentenausbildung, und zunehmend entwickelte sich in den nächsten Jahrzehnten auch ein bedeutendes wissenschaftliches Schrifttum. An manchen Universitäten bildeten sich sehr starke Leichtathletik-Vereine bzw. -abteilungen, die das nationale sportliche Niveau ganz wesentlich mitbestimmen konnten.
Es ist unbestreitbar, dass die deutschen Leichtathletik-Verbände ganz erheblich von dieser akademischen Entwicklung der Sportart profitierten. So konnte zum Beispiel bis in die 1970er und 1980er Jahre hinein die Trainer-/Übungsleiterausbildung inhaltlich und personell durchaus durch das damalige Wissenschaftsangebot der deutschen Sportwissenschaft mit abgedeckt werden. Institutionen wie• die Deutsche Hochschule für Körperkultur Leipzig mit einem Lehrstuhl/Institut für Leichtathletik
• die Deutsche Sporthochschule Köln mit einem Lehrstuhl/Institut für Leichtathletik und Turnen
• das Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport Leipzig
• die Trainerakademie Köln mit der Ausbildung zum Diplom-Sportlehrer
waren wesentliche wissenschaftliche Säulen für die Leichtathletik-Verbände genau so wie es leichtathletikorientierte Universitätsinstitute gab mit ausgewiesenen Leichtathletik-Experten als Hochschullehrer und gezielter Forschungstätigkeit.
Beispiele für Hochschullehrer, die sich langjährig der Lehre und Forschung der Leichtathletik widmeten, sind Berno Wischmann, Hermann Salomon, Manfred Letzelter (alle Uni Mainz), Rainer Ballreich (Uni Frankfurt), F. Koch, Manfred Scholich, Wolfgang Lohmann, Karl-Heinz Bauersfeld; Gerd Schröter (DHfK Leipzig), Heinrich Gundlach, Manfred Reiß (FKS/IAT Leipzig), Wolf-Dietrich Heß (Uni Halle-Wittenberg), Gert-Peter Brüggemann (SHS Köln), Winfried Joch (Uni Siegen), Arno Zeuner (PH Zwickau) (Angaben ohne Anspruch auf Vollständigkeit).
Positive Entwicklung geht zurück
In den beiden letzten Jahrzehnten ging diese positive Entwicklung jedoch zurück. Neben dem fachlichen Defizit entstand auch ein deutliches institutionelles Desinteresse, die sich beide durchaus gegenseitig bedingen.
Ursachen für das fachlich-theoretische Defizit liegen in der erheblich gestiegenen Komplexität leichtathletischen Trainings. Während früher noch die wissenschaftliche Lösung von Einzelfragen (Technik oder Technikdetail oder einzelne konditionelle Fähigkeit oder spezifische psychische Problematik u.a.) hilfreich sein konnte, muß heutzutage leichtathletische Forschung die Ganzheit und Komplexität des Trainingsprozesses insgesamt zum Gegenstand erheben.
Dazu sind wohl aber die personellen, ökonomischen und organisatorischen Bedingungen an deutschen Universitäten in der Regel nicht mehr gegeben. Zu solch komplexer praxisorientierter Forschung (Leistungsstruktur, Trainingsmittel und -methoden, Jahres- und Mehrjahresaufbau, Talentfindung usw.) wäre aktuell wahrscheinlich nur das Institut für angewandte Trainingswissenschaft Leipzig in der Lage.
Forschungsverbund denkbar
Ein Forschungsverbund von Teilkapazitäten mehrerer Universitäten wäre denkbar, dann aber über mindestens fünf Jahre und in enger Kooperation mit dem Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) bzw. seinen Landesverbänden (gemeinsame Umsetzung der Forschungsergebnisse in die Praxis).
Unumstößlich muss dabei aber immer bleiben, dass der DLV zu unterscheiden hat, ob der Wissenschaftler das Anliegen des Verbandes zum Untersuchungsgegenstand erhebt oder ob er die Leichtahletik nur als Gegenstand, als Mittel für seine eigene Wissenschaftsdisziplin benutzt.
Wesentliche Probleme
Um den singulär noch vorhandenen und ambitionierten Universitätslehrkräften gerecht zu werden, sei nicht vergessen, dass es auch ganz wesentliche gesellschaftliche und institutionelle Probleme für die Leichtathletik gibt:
• Das Interesse der sportwissenschaftlichen Institute am Leistungssport hat sichtbar nachgelassen.
• Die Zahl der leistungssportlich orientierten Studiengänge ging deutlich zurück.
• Die Konkurrenz der Sportverbände hat auch an den Universitäten zu einer Konkurrenz der Sportarten und Sportaktivitäten geführt.
• Im Vergleich zu früher nimmt die Leichtathletik in der sportwissenschaftlichen Ausbildung einen wesentlich geringeren Stellenwert ein. (Dies ist auch auf den sinkenden Stellenwert der Leichtathletik im Schulsport zurückzuführen.)
• Die häufig anzutreffende zeitliche Befristung von Universitätsstellen lässt die notwendige Langfristigkeit und Systematik verbandsspezifischer Forschungstätigkeit nicht zu. Diese Feststellung gilt besonders für die komplexe trainingswissenschaftliche Forschung im Leistungssport, graduell abgestuft durchaus aber auch für den Breitensport.
Selbst Verantwortung übernehmen
Als Sportverband mag dieses fachliche Defizit und das damit verbundene institutionelle Desinteresse noch so beklagt werden. Da auf absehbare Zeit von Kultusbehörden und Universitätsleitungen Änderungen im Sinne der Leichtathletik nicht zu erwarten sind, hat der DLV zukünftig selbst Verantwortung für die Wissenschaftsentwicklung der Leichtathletik zu übernehmen, um seinen nationalen und internationalen Ansprüchen weiter entsprechen zu können.
Selbstverständlich kann er allein keine eigene Forschungstätigkeit realisieren, aber er sollte aktiv Forschungen zur Leichtathletik initiieren, sie koordinieren und nach Möglichkeit manchmal auch teilfinanzieren. Dafür ist extra Personal bereitzustellen und zu qualifizieren - manche Sportverbände haben unter diesem Aspekt schon den Diagnostiktrainer als Stelle eingerichtet. Ebenso wären die Stellenbeschreibungen der zentralen Bundestrainer verbindlich und konkret durch die Aufgaben der Forschungskoordination, der Umsetzung von Wissenschaftsergebnissen in die Praxis und der A- und B-Trainer-Aus- und Fortbildung zu ergänzen bzw. zu vertiefen.
Wer diese Gedanken als ungewöhnlich empfinden mag, der möge sich vor Augen halten: Es geht dabei um die Perspektive der Leichtathletik! Sie bedarf dringend breiterer wissenschaftlicher Unterstützung.