Dr. Clemens Prokop - „Potenzial ausschöpfen“
Dr. Clemens Prokop erlebt in Peking (China) die zweiten Olympischen Spiele seiner seit 2001 andauernden Amtszeit als Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV). Christian Ermert von der Fachzeitschrift „leichtathletik“ sprach mit ihm unter anderem über seine Erwartungen an das deutsche Team bei Olympia und die Dopingproblematik.
Herr Dr. Prokop, der Präsident eines der größten Verbände in der olympischen Kernsportart verpasst die Eröffnungsfeier der Spiele. Ist das Zufall, Gleichgültigkeit oder ein beabsichtigter Boykott?Dr. Clemens Prokop:
Dahinter stecken keinerlei politische Absichten. Es war von vornherein klar, dass wir Leichtathleten zur Eröffnungsfeier noch nicht in Peking sind, weil die Athleten sich bis kurz vor dem Beginn der Wettkämpfe im Trainingslager in Japan aufhalten. Um meine Verpflichtungen als DLV-Präsident zu erfüllen, reicht es, wenn ich zu Beginn der Leichtathletik-Wettbewerbe in Peking bin. Natürlich bieten die Olympischen Spiele eine hervorragende Plattform, die Interessen des Fachverbandes und der WM 2009 gegenüber Politik und Wirtschaft zu vertreten. Was erwarten Sie von Deutschlands Leichtathleten in Peking? Dr. Clemens Prokop:
Durch die Absagen von Franka Dietzsch und Irina Mikitenko hatten wir zuletzt einige Rückschläge zu verkraften. Ihr Fehlen ist natürlich sehr ungünstig für das Mannschaftsergebnis, weil beide potenzielle Medaillen-Kandidatinnen waren. Andererseits haben wir viele Athleten im Team, die weit nach vorn kommen können, wenn sie ihre Höchstform in Peking erreichen und außerdem das nötige Quäntchen Glück haben. Geben Sie doch mal einen konkreten Medaillentipp ab... Dr. Clemens Prokop:
Ich halte vom Medaillenzählen generell nicht viel. Ich baue lieber eine realistische Erwartungshaltung auf, wir schicken schließlich nicht Superman und Superwoman nach Peking, sondern Leichtathleten, von denen wir hoffen, dass sie ihr individuelles Leistungspotenzial so weit wie möglich ausschöpfen. Nur wenn die Athleten auf breiter Front das nicht schaffen würden, hätten wir einen Fehler gemacht. Ob das dann für eine Medaille reicht, hängt von der Konkurrenz ab. Ich wäre jedenfalls zufrieden, wenn wir in Peking ein bisschen besser abschneiden würden als in Athen vor vier Jahren. Damals waren zwei Silbermedaillen die magere Ausbeute, also gilt die Devise Ihres Cheftrainers nicht mehr? Jürgen Mallow hatte zuletzt immer wieder betont, so gut wie bei der WM in Osaka im vergangenen Jahr abschneiden zu wollen, als deutsche Athleten zweimal Gold, zweimal Silber und dreimal Bronze gewannen… Dr. Clemens Prokop: …ich hoffe natürlich auch auf bessere Ergebnisse, als man erwarten kann. Aber realistisch betrachtet muss ich zufrieden sein, wenn wir uns gegenüber Athen steigern. Vielleicht erleben wir aber auch in Peking den einen oder anderen „Busemann-“ oder „Meyfarth-Effekt“ bei Athleten, denen eine urplötzliche Leistungssteigerung gelingt. Wer sind für Sie die sichersten Medaillen-Kandidaten im deutschen Team? Dr. Clemens Prokop:
Die internationale Konkurrenz ist so stark, dass man nicht von sicheren Medaillen-Kandidaten ausgehen kann. Es gibt aber Athleten, die um Medaillen kämpfen können. Dazu gehören die Speerwerferinnen Christina Obergföll und Steffi Nerius genauso wie Diskuswerfer Robert Harting und Kugelstoßerin Nadine Kleinert. Ariane Friedrich wird um eine Medaille springen, wenn alles normal läuft. Und vielleicht können die Stabhochspringer da anknüpfen, wo Andrej Tivontchik 1996 mit der bislang letzten Olympia-Medaille für Deutschland im Stabhochsprung aufgehört hat. Wenn alles optimal läuft, kommt auch Lilli Schwarzkopf für eine Siebenkampf-Medaille infrage. Für die Staffeln wird es indes sehr schwer. Was passiert, wenn Deutschlands Leichtathleten in Peking wie bei der Hallen-WM im März in Valencia ganz ohne Medaille bleiben? Dr. Clemens Prokop:
Die Medaillen sind für uns nicht der entscheidende Maßstab, für uns zählt, ob der Athlet sein Leistungspotenzial abrufen kann. Wenn Christina Obergföll in Peking 69 Meter mit dem Speer wirft und dann Vierte wird, kann man nicht von einer Enttäuschung reden.
Im deutschen Team fehlen mit Speerwerferin Linda Stahl und Stabhochspringer Alexander Straub auch wegen der vom DOSB bestimmten Nominierungspolitik zwei aussichtsreiche Athleten. Was denken Sie darüber? Dr. Clemens Prokop:
Für die beiden Athleten ist das tragisch, und sie tun mir leid. Andererseits wurden die Nominierungskriterien zwischen DOSB und DLV frühzeitig verhandelt und an den Vorgaben des IOC ausgerichtet. Alle Athleten kannten sie und konnten ihre Trainings- und Wettkampfplanung danach ausrichten. Im Interesse der Gleichbehandlung mussten wir an den Richtlinien festhalten, auch wenn es in den Fällen von Linda Stahl und Alexander Straub wehtut. Wie wichtig ist ein gutes Abschneiden der Nationalmannschaft in Peking für die finanzielle Situation des DLV? Dr. Clemens Prokop:
Unsere Sponsorenverträge laufen bis 2009, sodass uns ein weniger gutes Abschneiden in Peking nicht unmittelbar treffen würde. Wir hoffen natürlich auf ein gutes Ergebnis, weil uns das bei der Sponsorensuche sowohl für die WM 2009 in Berlin als auch für den Verband stärker helfen würde als alles andere. Der Verband finanziert sich aber immer noch vor allem mit öffentlichen Geldern. Ist das Olympia-Abschneiden das einzige Kriterium für deren Verteilung unter den Fachverbänden? Dr. Clemens Prokop:
Der DOSB hat sein System erfreulicherweise so verändert, dass heute – im Gegensatz zu früher – die Förderung der einzelnen Fachverbände nicht mehr nur von den Erfolgen der Vergangenheit abhängt. Mittlerweile hat auch die Überzeugungskraft der Verbandsplanungen für die Zukunft großen Einfluss auf die Höhe der Fördermittel. 2008 hat die Leichtathletik schon etwas mehr vom Kuchen abbekommen. Das zeigt, dass unser für den Leistungssport verantwortliches Gespann aus Professor Eike Emrich und Jürgen Mallow auf diesem Gebiet gute Arbeit leistet. Wenn Sie schon für Ihren Verband keine Medaillenzahl tippen wollen, welche Nation wird am Abend des 24. August die Nummer eins der Leichtathletik-Nationenwertung sein? Dr. Clemens Prokop:
Das werden die USA sein – da bin ich mir sicher, vor allem nachdem das russische Team zuletzt durch die wegen Dopingverdachts suspendierten Athleten arg geschwächt worden ist. Was haben Sie gedacht, als Sie von den mittlerweile elf suspendierten russischen Athleten erfahren haben? Dr. Clemens Prokop: Das Vertrauen in die Kontrollsysteme des Sports wächst, wenn gerade aus Russland auf breiter Front Dopingsünder überführt werden. Für die Akzeptanz des Anti-Dopingkampfes ist es eine ganz entscheidende Voraussetzung, dass wir nicht nur in Deutschland unser System Schritt für Schritt perfektionieren, sondern auch international die gleichen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Es ist ein Zeichen der Hoffnung, dass auch in den ehemaligen Ostblockstaaten, die derzeit ja quasi unter Generalverdacht stehen, irgendwann ähnliche Bedingungen wie in Westeuropa geschaffen werden können.
Freuen Sie sich auf das 100-Meter-Finale in Peking, das eins der schnellsten aller Zeiten werden könnte? Dr. Clemens Prokop:
Das Sprintfinale verspricht eine der spannendsten Entscheidungen dieser Olympischen Spiele zu werden, weil die Favoriten extrem eng zusammen sind. Aber die Zeiten lassen mich nachdenklich werden – genau wie die Tatsache, dass so viele der Medaillenanwärter in den Sprints aus Jamaika kommen, aus einem Land, in dem noch nicht einmal ein nationales Doping-Kontrollsystem existiert. Ich verfolge die Entwicklung im Sprint- und Laufbereich mit einer großen Skepsis und habe schon vor längerer Zeit gefordert, dass das IOC Länder ohne nationales Kontrollsystem von Olympia ausschließt. Dann würden die jeweiligen Regierungen sehr schnell dafür sorgen, dass dort entsprechende Kontrollsysteme installiert würden. Gehen Sie soweit, den Ausschluss der jamaikanischen Sprinter von Olympia zu fordern? Dr. Clemens Prokop:
Nein, das wäre derzeit nicht berechtigt, weil es erst 25 Länder auf der ganzen Welt gibt, die über eine Nationale Anti-Doping-Agentur verfügen. Ein paar andere haben ein nationales Kontrollsystem, aber das ist natürlich nur ein Bruchteil der Nationen, die an Olympischen Spielen teilnehmen. Jamaika zählt zum großen Rest. Bei den nächsten Olympischen Spielen sollte das IOC aber nur Athleten aus Ländern starten lassen, in denen ein nationales Kontrollsystem besteht. In Peking sollen immerhin mehr Dopingkontrollen als je zuvor bei Olympia durchgeführt werden… Dr. Clemens Prokop: …noch besser wäre es, wenn das IOC seine wirtschaftliche Kraft nutzen würde, seinen Kontrollzeitraum vor den Spielen auszudehnen. Es müsste die Athleten mit einem weltweiten Fahndungsnetz in den Trainingsphasen kontrollieren, in denen Doping am sinnvollsten ist. Dazu gehören auch Zielkontrollen, mit denen die besten Athleten deutlich häufiger getestet werden als die weniger leistungsstarken. Derzeit sind die wirtschaftlich schwächeren Fachverbände bis zum Beginn der Spiele für die Kontrollen noch allein verantwortlich. Ihre Amtszeit als Präsident geht im kommenden Jahr mit der WM in Berlin als Höhepunkt zu Ende. Haben Sie bislang alles erreicht, was Sie sich 2001 vorgenommen hatten? Dr. Clemens Prokop:
Ich bin zufrieden, vor allem weil wir seit meinem Amtsantritt 2001 alle hochkarätigen internationalen Meisterschaften nach Deutschland geholt haben. So haben wir dafür gesorgt, dass die Leichtathletik wahrgenommen wurde. Außerdem ist es gelungen, den DLV wirtschaftlich auf hohem Niveau zu stabilisieren. Im Leistungssport sind wir allerdings noch nicht da angekommen, wo ich mit dem Verband zu Beginn meiner Amtszeit hinwollte. Der Erfolg im Hochleistungssport lässt sich aber von der ehrenamtlichen Verbandsführung weniger stark beeinflussen, als allgemein angenommen. Deshalb sehe ich die größte Zukunftsaufgabe darin, dem DLV eine zeitgemäße Struktur zu geben. Der Verband hat sich längst zu einem mittelständischen Wirtschaftsunternehmen entwickelt, weist aber noch Strukturprinzipien wie ein Gesangsverein auf. Auf diesem Gebiet müssen wir den DLV erst noch ins 21. Jahrhundert führen.
Alles rund um die Olympische Leichtathletik:
News | DLV-Team | Zeitplan | Tippspiel | Podcast