Bernhard Stierle – Der mit dem Salto tanzte
Bernhard Stierle revolutionierte 1974 mit seinem Salto kurzzeitig die Weitsprung-Welt. Das Verbot des Weltverbands riss den Stuttgarter aus seinen Träumen. Jetzt hat der ehemalige Kornwestheimer Leichtathlet seine Rennschuhe wieder aus dem Schrank geholt. Als einer von 2635 Teilnehmern startete er in Sindelfingen bei den Senioren-Hallen-Weltmeisterschaften. Im National-Trikot von 1968!
Bernhard Stierle streifte wieder sein altes Nationaltrikot über (Foto: Walker)
In den 60er Jahre herrschte Aufbruchstimmung in Deutschland. Eine neugierige Jugend probte neue Lebensformen und auch im Sport gab es Veränderungsbereitschaft. Neue Techniken und Materialien gehörten zu den Innovationen. So präsentierte der Amerikaner Dick Fosbury die bis heute obligatorische Flop-Technik im Hochsprung. Glasfiber löste die Metallstangen der Stabhochspringer ab, und der Kornwestheimer Bernhard Stierle tüftelte daran, wie er im Weitsprung seine Bestleistung von 7,60 Meter verbessern könnte.Fünf Jahre ging der Dritte der Europäischen Hallenspiele 1968 in Madrid mit seinen Ideen "schwanger", dann präsentierte er am zweiten Februar 1974 in Böblingen bei den Süddeutschen Meisterschaften im fünften Versuch sein Ergebnis! Anlauf, Absprung mit eingezogenem Kinn, Drehung um die Körperbreitenachse, Landung auf den Füßen – der Stierle-Salto war perfekt! "Was war denn das?", so die ungläubige Reaktion der Kampfrichter und Zuschauer. 7,42 Meter wurden gemessen.
Absolut spektakulär
"Dies war absolut spektakulär", erinnert sich Rudi Felger, der ehemalige Hürdenläufer und spätere Sportwart im Württembergischen Leichtathletik-Verband. "Für 7,42 Meter riskiert einer Kopf und Kragen" - titelte ein großes Magazin. Bernhard Stierle wurde in die Rudi-Carrell-Show eingeladen, doch das Studio reichte für die erforderliche Anlauflänge nicht aus. Bei den Deutschen Hallenmeisterschaften in Berlin drängelte sich eine für damalige Verhältnisse ungewöhnliche Fotografenschar.
Die Amerikaner hatten ebenfalls am Salto experimentiert, und der schwedische Stabhochspringer Hans Lunquist demonstrierte den Salto im ZDF-Sportstudio. Nur einmal, bei den württembergischen Meisterschaften im Sindelfinger Floschenstadion, konnte Tüftler Bernhard Stierle – der auch württembergischer Rekordhalter im Hochsprung mit 1,98 Metern im verwegenen Rollstil war, seinen Salto noch präsentieren. Danach wurde er auf Antrag des Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) 1974 beim Weltkongress in Rom verboten, die Weitsprung-Revolution dauerte nur wenige Monate.
Karriereknick
"Ich bin mir sicher, dass ich mit dem Salto über acht Meter gesprungen wäre", sagt Bernhard Stierle, "denn mein Salto war technisch keinesfalls ausgereift." Deshalb war der gelernte Volksschullehrer, der sich zum Gymnasiallehrer hocharbeitete, sehr enttäuscht über diesen Karriereknick, zumal es keinerlei offizielle Begründung gab.
Die als Grund unterstellte Verletzungsgefahr lässt Bernhard Stierle nicht gelten und erhält dafür bis heute Unterstützung. "Der Sicherheitsaspekt ist nicht akzeptabel" sagt der Tübinger Biomechanik-Professor Ulrich Göhner vom Institut für Sportwissenschaft, "jeder Bock- oder Kastensprung ist gefährlicher." So weist Ulrich Göhner auch in aktuellen Biomechanik-Büchern Stierles Salto-Technik immer noch aus. Er verweist sogar auf einen aktuellen Fall eines pfiffigen Stuttgarter Schülers, der beim Hochsprung in der Saltotechnik höher gesprungen ist als mit dem Flop.
Erfolg als Motivation für Senior
Fast dreißig Jahre nach dem Karriereende hat Bernhard Stierle die Rennschuhe mit sechzig nochmals aus dem Schrank geholt. Für eine zweite Karriere im Seniorensport. Dreißig Jahre nach seiner Bronzemedaille von Madrid gewann er im vergangenen Jahr bei den Europäischen Hallenspielen in San Sebastian vier Titel. "Der Erfolg ist Motivation", sagt Bernhard Stierle.
Deshalb startete er bei den Senioren-Weltmeisterschaften im Sindelfinger Glaspalast als einer unter 2635 Teilnehmen aus 57 Nationen gleich in vier Disziplinen: Weit-, Drei- und Hochsprung sowie über 60 Meter Hürden. Seit vergangenen Herbst trainiert der 62-Jährige täglich. Hanteltraining auf dem Parkett des Tanzstudios seiner Frau in Reusten bei Tübingen, Sprint- und Sprungkrafttraining einmal wöchentlich im Glaspalast Sindelfingen und Fitnesstraining in Herrenberg.
Erfolgserlebnis
Wie alle 1300 deutschen Teilnehmer startete Bernhard Stierle nochmals im Nationaltrikot. Allerdings wird er es nicht kaufen. Er wird sein Trikot von 1968 überstreifen. Den Salto wird er in Sindelfingen nicht springen, dafür ist die Anlaufgeschwindigkeit nicht mehr ausreichend.
"Trotz des Verbots war der Salto ein Erfolgserlebnis", denkt Bernhard Stierle zurück. Einen Platz in der Sporthistorie hat er zudem inne.