Dunkle Wolken beim Enschede-Marathon
Der Himmel über Enschede, eine holländische Industriestadt mit 150.000 Einwohnern, war grau in grau. Die Regentropfen klatschten auf den Asphalt. Raymond Kipkoech, der Marathon-Mann aus dem fernen Kenia, schüttelte sich wie ein triefend nasser Pudel, als er auf das Diekman-Gelände einbog. Mit einem raschen Antritt, wenige Meter vorm Ziel, suchte er die Entscheidung.
Raymond Kipkoech (links) gewann den Marathon in Enschede (Foto: Hörnemann)
Wesley Chelule, sein Begleiter, hielt dagegen. Dicht an dicht sausten die beiden dunkelhäutigen Burschen, die aus einer achtköpfigen Spitzengruppe bei Kilometer 30 übrig geblieben waren, am staunenden Publikum vorbei. Kipkoech drückte unablässig aufs Tempo. Chelule wehrte sich verzweifelt gegen die drohende Niederlage, versuchte noch aufzuschließen. Vergebens. Raymond Kipkoech, den Blick stur geradeaus, sprintete aus Leibeskräften durchs Zielband. 2:12:36! So lautete die Siegerzeit, die über ihm in großen gelben Zahlen auf der großen Digitaluhr abzulesen war. Raymond Kipkoech, 24 Jahre jung, holte erst mal tief Luft, und dann endlich, mit einiger Verspätung, huschte auch ein leises Lächeln über sein triefend nasses Gesicht. Wesley Chelule, der alles gegeben und dennoch nicht gewonnen hatte, war geschlagen, um nur eine Sekunde. Glück für den Einen, Pech für den Anderen! Kipkoech, ein strahlender Bursche, der an diesem eher ungemütlichen Tag um 5500 Euro Prämie reicher geworden war, freute sich diebisch über seinen Coup bei diesem Klassiker, der als älteste Marathon-Veranstaltung in Mitteleuropa bekannt geworden ist. Nur Boston und Kosice können weltweit auf eine längere Tradition verweisen.
Kipkoech unter den Fittichen von Dr. Rosa
Hinterher, bei der Pressekonferenz im Trockenen, beklagte er die widrigen Bedingungen. „Erst störte der Wind und dann auch noch der Regen“, meinte Kipkoech, der vom italienischen „Trainer-Guru“ Dr. Gabriele Rosa betreut wird, „ich war mir ziemlich sicher, dass ich gewinnen würde.“ Und warum? Da grinste er und antwortete: „Weil ich besser spurten kann als Wesley.“ Chelule, der unterwegs in schöner Serie aus dem Pulk der Spitzenläufer zurückgefallen war und immer wieder Anschluss gefunden hatte, konterte: „Im nächsten Jahr komme ich wieder und hole mir den Sieg.“
Die beiden Kenianer waren die Hauptdarsteller bei diesem Lauf, der wie 1999 wieder durch deutsch-holländisches Gebiet führte. Vor zwei Jahren sorgte das Inferno, als 177 Tonnen Feuerwerkskörper mitten in der City von Enschede explodierten und 22 Menschen in dem Flammenmeer den Tod fanden, für eine Absage. Und im Vorjahr mussten die Ausrichter wegen der Maul- und Klauenseuche sowie geschlossener Grenzen auf einen unattraktiven Pendelkurs ausweichen. „Das“, erinnerte sich Cheforganisator Freek van der Meer, „hat uns viele Teilnehmer gekostet.“ Damals waren 2100 Läufer und Läuferinnen auf den Beinen. Diesmal hatten rund 500 mehr ihre Meldung abgegeben.
Gute Enschede-Premiere von Lidia Vassilevskaja
Lidia Vassilevskaja, eine 29-jährige Russin, war erstmals in Enschede. „Es hat sich gelohnt“, ließ sie durch ihre Dolmetscherin ausrichten, „eigentlich wollte ich schon im April in Rotterdam starten.“ Doch ein dummer Sturz beim Eislaufen hatte ihr einen Armbruch plus eine nachfolgende Operation beschert. „Deshalb musste ich eine längere Pause legen.“ Im dritten Marathon ihrer Karriere steigerte sie sich auf 2:29:24 Stunden und drückte zugleich den Streckenrekord der Italienerin Franca Fiacconi, die zwölf Monate zuvor in 2:31:40 vorn lag und eigentlich ihren Erfolg wiederholen wollte. „Das ging leider nicht“, entschuldigte sich die Römerin, „ich bekam auf einmal starke Rückenschmerzen.“ Bis Kilometer 28 kämpfte sie sich durch und stieg dann tief enttäuscht aus, so dass die Kenianerin Winnie Cheruiyot Zweite wurde in 2:40:03 Stunden.