Ein Rekord-Fest in Braunschweig
Am Wochenende finden in Braunschweig die 104. Deutschen Leichtathletik-Meisterschaften statt. Gustav Schwenk stimmt Sie mit einem Streifzug durch die sportliche Historie auf diese Titelkämpfe ein. Lesen Sie den zweiten von drei Teilen.

Auch der Name Lina Radke ist mit Braunschweig verbunden
Hier ist eine aktuelle Preisfrage für große Kenner der deutschen Leichtathletik-Geschichte: Kam es vor vielen Jahren schon einmal vor, dass zwei Sportler bei einem Meeting nicht weniger als fünf deutsche Rekorde aufstellten? Die Antwort lautet: Ja, am 13. August 1911 bei einem Sportfest in – Braunschweig! Also der Stadt, in der am Wochenende die 104. Deutschen Meisterschaften stattfinden.
Ich weiß nicht, in welcher Reihenfolge den Zuschauern damals diese fünf Rekorde geboten wurden. Also gebe ich jenem Mann den Vortritt, der seiner Zeit gleich drei neue Bestleistungen aufstellte. Die Rede ist von Robert Pasemann, einem damals 24-jährigen Tiefbau-Ingenieur, der aus Kiel stammte, aber für die Turngemeinde in Berlin startete. Seine Rekorde waren: 1,923 Meter im Hochsprung, 3,612 Meter im Stabhochsprung und 6,90 Meter im Weitsprung.
100 Meter in 10,5 Sekunden
Noch mehr Bewunderung fand unter den Leichtathleten jener Zeit das Rekord-Double des Sprinters Richard Rau mit dem C des SC Charlottenburg als Wappen auf dem Trikot: 100 Meter in 10,5 und 200 Meter in 22,0 Sekunden. Die 100-Meter-Zeit wäre sogar Weltrekord gewesen, wenn man nicht zu jener Zeit Rekorde nur in Fünftelsekunden geführt hätte. Also hätte erst eine Zeit von 10,4 Sekunden eine Verbesserung des ersten offiziellen 100-Meter-Weltrekordes (David Lippincott/USA 10,6 Sekunden im 16. Vorlauf (!) der Olympischen Spiele 1912) gebracht. Ja, die "Alten" hatten es nicht einfach, nicht nur wegen der damaligen Bahnverhältnisse.
Erst recht nicht Robert Pasemann. Er hatte sich 1908 als Hochspringer und Riegenturner für die Olympischen Spiele qualifiziert. Er konnte in London jedoch nicht teilnehmen, da er sich kurz vor den Spielen beim Turnen beide Arme gebrochen hatte. Nach Ausheilen der Verletzungen konnte er nicht mehr turnen. Die Konzentration auf die Leichtathletik zahlte sich aus. Später arbeitete der Vielfach-Rekordmann als Sportlehrer. Zu den Jungen, die er für die Leichtathletik begeisterte, zählte auch der spätere DLV-Präsident Dr. Eberhard Munzert.
"Frauen blieben am Wege liegen"
Schon 74 Jahre vor den Deutschen Meisterschaften des Jahres 2000, die noch in frischer Erinnerung sind, fanden 1926 Titelkämpfe für Frauen sowie im Marathonlauf und Zehnkampf in Braunschweig statt. "In der Hauptstadt des Freistaates Braunschweig", wie es damals hieß, gab es damals mehrere Weltrekorde.
Die Berlinerin "Gundel" Wittmann lief im 100-Meter-Vorlauf 12,3 Sekunden, die nach den damaligen Rekordregeln auf 12,4 Sekunden aufgerundet wurden. Milly Reuter aus Frankfurt, die ein Jahrzehnt später Meisterin im Golf wurde, warf den Diskus 38,28 und 38,34 Meter weit.
Die Frauen-Leichtathletik steckte damals noch in den Kinderschuhen, trainiert wurde höchstens zweimal in der Woche. "Der Leichtathlet", das damalige Fachblatt, widmete dem nur 1926 als Meisterschaft ausgetragenen 1000-Meter-Lauf besonders kritische Worte: "Die lieben Damen sind doch immer noch so unvernünftig, viel leichter als die Herren über ihre Kräfte zu gehen und sich totzulaufen. Auch in diesem Rennen blieben einige junge Frauen am Wege liegen."
Das galt natürlich nicht für die in 3:20,8 Minuten siegreiche Lina Batschauer vom SC Baden-Baden, die nach ihrer Heirat Radke hieß, nach Breslau zog und 1928 die erste Goldmedaille für die deutsche Leichtathletik errang.