
Ein Tag mit... Carolin Nytra (I)
Bundeswehr, Studium, Halbtagsjob oder Profi-Sport - das Leben der Athleten des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) ist unterschiedlich. leichtathletik.de darf einen Blick in ihren Alltag werfen und einen Tag hautnah dabei sein. Dieses Mal an der Reihe ist Hürdensprinterin Carolin Nytra. Sie ist 2010 nach Mannheim gezogen, weil sie dort beste Bedingungen für eine erfolgreiche Karriere hat – sowohl im Hürdensprint als auch beruflich.
Eigentlich hätte es kein Treffen mehr mit Carolin Nytra gebraucht. Allein die Terminfindung für den Reportage-Tag mit der Athletin verdeutlichte, dass im Alltag der Hürdenspezialistin nicht viel Platz für all das ist, was über Sport und Beruf hinausgeht. Dennoch suchte die Athletin wochenlang nach ein bisschen Freiraum – und fand ihn zwischen Umzugskisten und umfangreichem Aufbautraining.
„Guten Morgen“, ruft sie fröhlich, als wir uns vor der Physiotherapie-Praxis in Mannheim treffen. Ganz pünktlich schafft sie es nicht. Doch während die Reporterin ihren ersten Termin des Tages wahrnimmt, hat Carolin Nytra schon einen Ausgang mit Hund Murphy und einen kleinen Umzugsmarathon zwischen zwei Wohnungen hinter sich. Da wird es endlich Zeit für das, was für die Hürdensprinterin an erster Stelle steht: „My way back.“
„My way back“
„My way back“ ist Carolin Nytras Parole für ihren Kampf zurück auf die Wettkampfbühne. Nach Eingriffen zur Entfernung von Fersenspornen an beiden Füßen im Sommer 2013 musste die EM-Dritte von 2010 bei Null beginnen. „Ich bin wochenlang nur mit Krücken gegangen. Da musste ich das Laufen quasi erst wieder erlernen“, erinnert sie sich. Seither ist jeder Schritt auf ihr großes Ziel 2014 ausgerichtet: die EM in Zürich (Schweiz; 12. bis 17. Juli).
Nadine Göhring, Carolin Nytras Physiotherapeutin, kennt ihre Patientin, seit diese im Herbst 2010 nach Mannheim zog. Sie ist jeden Tag an der Mission „My way back“ beteiligt und behandelt die Athletin vor jeder Trainingseinheit. Die beiden brauchen nicht mehr zu besprechen was zu tun ist. Also Klamotten kurzerhand in die Ecke geworfen und direkt geht’s los mit einem munteren Tratsch über die aktuellen nicht-sportlichen Themen in Carolin Nytras Leben.
Stress? Keine Spur!
Denn als wäre die Vereinbarung von Sport und Beruf nicht genug, hat die Mannheimerin auch das alltägliche Chaos zu bewältigen: Vor dem Abflug ins Trainingslager muss noch schnell ein zweistündiger Zahnarzt-Termin eingeschoben werden, heute transportiert eine Umzugsfirma die Möbel in die neue Wohnung, morgen bauen Unerfahrene die Küche in der alten Wohnung aus. Und zwischendrin muss Nytra immer wieder eine Runde mit Murphy drehen.
Das hört sich an wie eine übertriebene Comedy-Szene und man könnte meinen, die Hürdensprinterin läge der Hysterie nahe auf der Physio-Bank und wüsste nicht, wie sie das alles schaffen soll. Doch Carolin Nytra wäre nicht Carolin Nytra, wenn sie sich davon aus der Bahn werfen ließe. Stress? Keine Spur! Athletin und Physiotherapeutin verstehen sich bestens und lassen neben der Unterhaltung die Behandlung auf keinen Fall zu kurz kommen.
Die Wahl-Mannheimerin, das zeigt sich schon an dieser Stelle, ist fokussiert wie noch nie. Und daran ist ihr Zeitplan angepasst. Wenige Minuten später ist der Rundum-Austausch abgeschlossen, die Waden sind wieder frei und wir steuern die nächste Station des Tages an: 500 Meter von der Physiotherapie-Praxis entfernt steht in der Leichtathletikhalle der MTG Mannheim eine Trainingseinheit an.
Training flexibel
Was heute auf dem Programm steht, weiß die Athletin selbst noch nicht genau. Die vergangenen Tage war sie etwas angeschlagen. Ihr Trainer Rüdiger Harksen und sie hatten sofort reagiert und das Training reduziert. Deshalb bespricht das Gespann heute spontan, was trainiert wird.
Während wir noch auf Rüdiger Harksen warten, startet Carolin Nytra zum Warmmachen in ihre Runde auf der 200-Meter-Bahn – mit einem Schlenker zurück zum Auto. Dort hat sie ihre Spikes vergessen. Sie habe sich noch nicht wieder daran gewöhnt, die Schuhe mitzunehmen.
„Anfang Februar bin ich zum ersten Mal wieder reingeschlüpft, seither haben wir drei oder vier Einheiten teilweise in Spikes gemacht“, erklärt die Hallen-Europameisterin von 2011. „Wir tasten uns erst langsam ran und achten sehr auf die Signale meines Körpers.“
Neue Zeitrechnung
Viel sensibler zu sein, was die Reaktionen des Körpers auf Belastungen angeht – das hat Carolin Nytra nach den beiden OPs im vergangenen September gelernt. „Wir haben eine neue Zeitrechnung angefangen, mein Trainer Rüdiger Harksen und ich: vor der OP und nach der OP.“ Das Gespann legt großen Wert darauf, dass ab sofort kein noch so kleines Steinchen mehr Carolin Nytras Weg zurück blockiert.
Obwohl die Rückkehr viel Geduld von ihr erfordert - eigentlich nicht ihre Stärke - verbringt die Athletin viel Zeit mit Reha und physiotherapeutischer Behandlung. Das nimmt einen mindestens genau so großen Stellen- und Zeitwert ein wie die Trainingseinheiten.
Aktuell treffen sich Athletin und Trainer sechs Mal in der Woche zum Training, vor der OP waren es mindestens als acht Mal. Auf der Physiobank liegt Carolin Nytra oft zweimal am Tag. Obwohl auch Rüdiger Harksen mit Kader-Lehrgängen oder als Organisator der Juniorengala in Mannheim viel zu tun hat, sind beide flexibel genug, sich für jeden Tag neu zu einem Trainingstermin abzustimmen.
Rüdiger Harksens Erfahrung
Im Training behält Rüdiger Harksen seinen Schützling ganz genau im Blick. Es ist ein routinierter, erfahrener Blick. Der Bundestrainer für den Hürdensprint der Frauen ist seit über 30 Jahren für den Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) tätig: „Ich beschäftige mich schon so lange täglich mit dem Hürdensprint. Da entwickelst du einen Blick für die Athletin und lernst, sie zu lesen“, sagt er. „Ich sehe quasi, wie sie sich fühlt, wenn sie über die Hürde sprintet.“ Der Routinier ist der Grund, warum Carolin Nytra Ende 2010 von Bremen zur MTG Mannheim wechselte.
Das Aufwärmen ist abgeschlossen, Carolin Nytra steht an der Startlinie. Sprints und Kraft hat Rüdiger Harksen vorgegeben. Auf die Spikes verzichtet sie heute doch noch, morgen steht schon die nächste Laufbelastung an. Und das an zwei Tagen nacheinander, das ist Premiere seit der neuen Zeitrechnung. Doch auch in Laufschuhen stimmen die Zeiten. Rüdiger Harksen nickt und auch Carolin Nytra ist mit sich zufrieden.
„Früher, vor den Eingriffen, war ich im Training nur dann zufrieden, wenn ich neue Bestleistungen aufgestellt habe“, sagt die gebürtige Hamburgerin in einer kurzen Pause. „Seit ich aber letztes Jahr für so lange Zeit ausgebremst wurde, sehe ich alles etwas relativierter. Heute bin ich vor allem dankbar dafür, dass sich alles so gut entwickelt und ich auf einem guten Weg bin.“
Positive Seiten der Verletzung
Denn die Zwangspause brachte nicht nur Schlechtes mit sich: „Wir hatten viel Zeit an Dingen zu feilen, die früher vielleicht zu kurz kamen. Beispielsweise meine Kraftwerte waren noch nie besser und ich bin viel beweglicher geworden“, sagt Carolin Nytra. Was dahinter steckt zeigt sie nach den Sprints im Kraftraum, als sie die Gewichte auf der Stange zum Umsetzen kontinuierlich erhöht.
Eigentlich stünde nach dem Training wieder eine Runde Gassi gehen mit Murphy an, dem Sheprador, eine Mischung aus Australian Shepherd und Labrador Retriever. Vor einem Jahr noch durfte sie ihn während des Trainings im Stadion an einen Baum anbinden. Dann beschwerte sich jemand und die Stadt verbot Hunde auf der Anlage. Ein weiteres Erschwernis im ohnehin schon turbulenten Alltag Carolin Nytras, weil die Athletin nun jede Pause nutzen muss, um nach Hause zu fahren.
Doch Carolin Nytra beschwert sich nicht, sie macht. Sie verlässt sich nicht darauf, dass alles läuft, sondern sie sorgt selbst dafür. Dass sie ein starkes Team im Rücken hat, das sie jeden Tag unterstützt, ist für sie keine Selbstverständlichkeit. So ist sie auch ihrer Mutter dankbar, die gerade zu Besuch ist und das Kisten-Ausräumen in der neuen Wohnung übernimmt. Zeit für Nytra, beim Umzugsunternehmen in der alten Wohnung vorbeizuschauen, bevor sie weiter in die Mannheimer Innenstadt düst...
In zweiten Teil von „Ein Tag mit … Carolin Nytra“ erfahren Sie am Freitag (4. April) mehr über den beruflichen Alltag der Hürdensprinterin und davon, mit welcher Therapieform sie auf dem Weg zu neuer körperlicher Balance ist.