| Reportage

Ein Tag mit… Gina Lückenkemper in Ghana

Am 10. Dezember ist Tag der Menschenrechte. Anlass genug, um von den Menschen zu berichten, für die weder Menschenrechte noch die menschliche Grundversorgung eine Selbstverständlichkeit sind. Sprinterin Gina Lückenkemper hat mit dem Kinderhilfswerk Plan International einige von ihnen in ländlichen Gemeinden in Ghana besucht. Und dort lebensfrohe, aufgeschlossene Menschen kennengelernt, die mit kleinen Projekten große Veränderungen bewirken konnten.
Silke Bernhart

Anabella und Isabella sitzen links und rechts neben Gina Lückenkemper und halten deren Hände fest umschlossen. Interessiert zupfen die Mädchen an Fingern und Fingernägeln und streichen über die Haut der deutschen Sprinterin. Etwas schüchtern, aber mit neugierigen Augen blicken sie immer wieder hoch zu ihrem besonderen Gast, während ihre Großmutter ein paar Fragen an Gina Lückenkemper stellt. Hat sie Familie? Kinder? Wie lange bleibt sie zu Besuch?

Die sonst so wortgewandte Leichtathletin ist in diesen Minuten tatsächlich fast ein wenig wortkarg. Was auch daran liegen mag, dass sie von beiden Seiten mit Bananen gefüttert wird, die ihr die jungen Mädchen als Gastgeschenk anbieten. Gina Lückenkemper hat Stifte und Luftballons für Anabella und Isabella mitgebracht. Kleine Kostbarkeiten für die neunjährigen Zwillinge, die in ihrem Dorf in Ghana wenig mehr haben als die Kleidung am Leib und das Dach über dem Kopf.

Kennenlernen des Patenkinds

Es ist ein besonderer Moment für Gina Lückenkemper. Schon den ganzen Tag hat sie darauf hingefiebert, auf den Höhepunkt ihrer Ghana-Reise, auf das Treffen mit ihrem Patenkind Anabella. Die 21-Jährige hat in diesem Jahr im Rahmen der Initiative „Kinder brauchen Fans!“ eine Patenschaft des Kinderhilfswerks Plan International Deutschland übernommen. „Ich wurde über den Deutschen Leichtathletik-Verband angefragt, ob ich das machen möchte. Ich habe darüber schon viele gute Dinge gehört und nicht lange überlegt!“ erklärt sie.

Das Dorf der Familie von Anabella und Isabella liegt in der Nähe des Volta-Stausees, der in den 1960er Jahren nach dem Bau des Volta-Staudamms entstand. Damals wurden zahlreiche Gemeinden umgesiedelt, Hütten und Straßen neu gebaut. Wer die Gemeinden jetzt besucht, hat das Gefühl, es hat sich seitdem wenig getan. Vom Asphalt der Straßen ist fast nichts mehr übrig, der Kleinbus der Besuchergruppe musste sich durch Urwald und wannentiefe Schlaglöcher bis zum Ziel kämpfen. Einziges Zeichen dafür, dass man auf dem richtigen Weg ist, sind die Strommasten, die im tiefen Unterholz den Weg von Dorf zu Dorf weisen.

Besuch zahlreicher Projekte

Mehr als zwei Stunden Fahrt hat Gina Lückenkemper hinter sich, als sie endlich auf die Zwillinge trifft. Und schon unzählige neue Eindrücke im Kopf. In den Tagen zuvor hat sie bereits eine Gemeinde besucht, die es mit dem Bau eines Brunnens und getrennten Waschräumen für Mädchen und Jungen geschafft hat, dass Mädchen seltener die Schule abbrechen.

Sie war zu Gast bei einem Fußballspiel von zwei Mädchen-Mannschaften und hat junge Frauen wie die 20-jährige Abigail kennengelernt, die sich mit neuem Selbstbewusstsein auf einmal vorstellen können, sich ihren beruflichen Werdegang selbst auszusuchen. Soldatin will Abigail werden, weil sie dann weiter viel Sport machen kann, wie in dem Fußball-Projekt.

Bereits am selben Tag hat sich Gina Lückenkemper eine Medizinstation angeschaut, die für rund 6.000 Menschen in zwölf Gemeinden die medizinische Grundversorgung leistet. Drei Krankenschwestern und vier freiwillige Helferinnen sind sieben Tage in der Woche verfügbar und haben besonders durch die Vor- und Nachsorge bei Geburten dazu beigetragen, dass die Mütter-Sterblichkeit in der Gegend stark gesunken ist.

Schulklasse singt für Gina Lückenkemper

In allen Gemeinden ist die junge deutsche Leichtathletin herzlich und offen empfangen worden. So auch im Dorf ihres Patenkinds. Anabella und Isabella führen Gina Lückenkemper von ihrem aus Holz und Lehm errichteten und mit Wellblech bedeckten Haus über den Dorfplatz rund 50 Meter bis zum Schulgebäude. Dort wartet bereits ihre Schulklasse.

Rund 40 Augenpaare blicken auf das Trio, als es den Klassenraum betritt. In dem dunklen, vergleichsweise kühlen Raum, an dem Holz-Fensterläden die Fenster ersetzen, sitzen die Schüler in ihren einheitlichen Schuluniformen zu zweit an Holzbänken. Vorne steht der Klassenlehrer an der Tafel. Wandschmuck, Unterrichtsmaterialien, bunte Schulranzen, Butterbrot-Boxen – Fehlanzeige.

Dafür herrscht hier jede Menge Euphorie und Rhythmus, wovon sich Gina Lückenkemper gleich selbst ein Bild machen kann. Denn die Klasse hat für den Gast aus Deutschland etwas vorbereitet: Auf einmal erheben sich alle Schüler und der Lehrer stimmt ein Lied an, das die Schulkinder voller Inbrunst mitsingen. Gina Lückenkemper kennt da keine Berührungsängste. Wie schon an den Tagen zuvor ist sie direkt mittendrin im Geschehen, klatscht im Takt mit und lässt sich auch vom kleinen Tänzchen der Kinder anstecken.

Schulbau mit Projektmitteln von Plan

Das Schulgebäude mit sechs Klassenzimmern sowie eine kleine Bücherei sind mit Unterstützung von Plan International errichtet worden. Patenschaften wie jene, die Gina Lückenkemper übernommen hat, sowie private Spender und Förderer aus der Wirtschaft helfen bei der Finanzierung und Umsetzung dieser Projekte. Das Projekt "Wasser für Schulen und Gemeinden in Ghana" hat der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) unterstützt, der mit Plan International Deutschland seit 2013 eine Charity-Partnerschaft pflegt.

Das Geld geht nicht direkt an Familien, es fließt in Maßnahmen, die der gesamten Gemeinde zugutekommen. Mitarbeiter des regionalen Projektbüros in Ghana evaluieren den Bedarf und entscheiden dann, wo welche Unterstützung am dringendsten benötigt wird – wie beim Bau des Brunnens. Der Latrinen. Der Medizinstation. Oder der Gründung des Fußball-Projekts, in dem wie bei so vielen Initiativen die Mädchen, ihre Ausbildung, ihre Rechte, ihre Gesundheit im Mittelpunkt stehen.

Sparclubs als erster Schritt zur Finanzplanung

Im Dorf von Anabella und Isabella zum Beispiel gibt es seit einer Weile einen Sparclub. Während Gina Lückenkemper im Klassenzimmer tanzt, haben sich die Mitglieder des Clubs in einem schattigen Plätzchen auf den in Ghana allgegenwärtigen blauen Plastikstühlen versammelt und präsentieren stolz ihre „Bank“ –  eine Geld-Kassette mit drei Schlössern, in denen das Ersparte gehütet wird. Die drei Schlüssel bewahren drei unterschiedliche Mitglieder des Clubs um sicherzustellen, dass sich niemand eigenmächtig an dem Guthaben bedient.

Es ist der erste kleine Schritt zu einem langfristigen Wirtschaften in einer Gegend, in der die Menschen oft nur von der Hand in den Mund leben. 30 Personen haben sich im Sparclub zusammengeschlossen und zahlen wöchentlich einen festen Betrag ein. So kann die Gruppe nun kleinere Kredite gewähren, mit den Zinsen Gemeingut anschaffen oder Gemeindemitgliedern in Not helfen. Auch die Großmutter der Zwillings-Mädchen sitzt in der Runde. Sie hat mit einem Kredit in ihren Fisch-Handel investiert.

Treffen „sehr emotional“

Auf dem Dorfplatz wird es laut. Die Schulkinder haben Schulschluss. Auch Gina Lückenkemper hat das Klassenzimmer verlassen – wieder mit Anabella und Isabella an der Hand, die nun aber aufgeregt in Richtung ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler blicken: Ein bunter Ball fliegt durch die Luft, ein Mitbringsel der Besucher, und alle Kinder sind aus dem Häuschen. Gina Lückenkemper beugt sich lachend zu den Zwillingen herunter: „You can go“, sagt sie ihnen, und schon stürmen die beiden davon.

„Das war gerade sehr emotional“, stellt die junge Athletin fest, die sich mit ihren 21 Jahren schon so viele Träume verwirklichen konnte wie in dem Dorf kaum alle Bewohner zusammen. Schon die Fahrt in die nächstgrößere Stadt ist hier gefühlt eine Weltreise, denn ein Auto hat hier fast niemand. Auch schwere Lasten werden zu Fuß transportiert – auf dem Kopf. Ein wahrer Balance-Akt und eine Höchstleistung, das konnte auch Gina Lückenkemper nachvollziehen, als sie in einer Gemeinde dazu eingeladen war, selbst eine Wanne auf dem Kopf mit Wasser zu füllen.

Erst Schulabschluss – dann Deutschland-Besuch?

Am Tagesende fällt es Gina Lückenkemper sichtlich schwer, die Gemeinde wieder zu verlassen. „Anabella und Isabella haben mich gefragt, ob sie mit mir nach Deutschland kommen können“, berichtet sie mit einem Schmunzeln – und in dem Wissen, dass die Mädchen von der Entfernung und dem Leben dort ganz sicher sehr überrascht wären. „Aber ich habe ihnen gesagt, dass sie zuerst die Schule beenden müssen. Dann können sie mich besuchen kommen.“

Sie selbst will Anabella und Isabella Briefe schreiben, ihnen von ihrem Leben erzählen und ihnen Fotos schicken. Damit sie erfahren, was als junge Frau möglich ist und wofür sie sich in ihrer Heimat selbst einsetzen können. „In Ghana gibt es so extreme Unterschiede“, sagt Gina Lückenkemper, „aber die Armut spielt überall eine große Rolle. Die meisten Menschen möchten gar nicht aus ihrem Umfeld heraus. Sie möchten einfach das Beste aus ihrer Lebenssituation machen. Und das Kinderhilfswerk Plan gibt Hilfe zur Selbsthilfe. Ich hoffe, dass meine Erfahrung hier auch andere Menschen berührt und motiviert, sich für Initiativen wie diese zu engagieren.“

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