Erst nach McDonalds, dann zum Wettkampf
Denkt er an Recklinghausen in der Nacht, wird er um den Schlaf gebracht! So, oder so ähnlich kann man Günther Lohres Verhältnis zum "Recklinghäuser Marktplatzspringen" bezeichnen. Spricht er über seine Eindrücke vom Marktplatzspringen im Stabhochsprung, das am nächsten Dienstag (30. Mai) seine 25. Auflage erfährt, spürt man förmlich, wie ihm das Adrenalin ins Blut schießt! Ganz so wie damals, vor 25 Jahren, als er das erste Mal auf dem Altstadtmarkt sprang.
Die Auftritte von Günther Lohre sind in Recklinghausen legendär (Foto: Zeitungshaus Bauer)
"An viele Wettkämpfe ist die Erinnerung verblasst", erzählt Günther Lohre, der am 12. Mai 53 Jahre alt wurde, "aber meine Erlebnisse bei den Starts beim Marktplatzspringen sind unvergessen." Das wundert eigentlich nicht, denn der 18-malige Deutsche Meister gewann die ersten drei Springen hintereinander. Drei Siege – geschweige denn einen "Hattrick" – hat nach ihm kein Athlet mehr geschafft.Ganz nüchtern beginnt er mit seinen Erinnerungen. Fast analysierend erklärt er, was mit Recklinghausen plötzlich ganz anders wurde: "Es hatte damals einen ganz besonderen Charme, die Leichtathletik aus dem Stadion zu holen. Es hat bei den Zuschauern den Blickwinkel verändert. Im Stadion vermittelt sich aufgrund der Entfernung die Leistung nicht so sehr. Anders war das auf dem Marktplatz. Wenn man als Zuschauer nahe dran ist, kann man erst einschätzen, wie hoch das ist. Das betrifft nicht nur den Stabhochsprung. Man muss sich einfach mal unter eine Hochsprunglatte stellen, um erkennen zu können, welche Leistung dort vollbracht wird. Im Stadion fehlt jede Beziehung."
Im Schwärmen
Dann gerät der gebürtige Leonberger richtig ins Schwärmen. "Recklinghausen, das sind unglaubliche Erinnerungen. Das war eine Intensität, eine Wechselbeziehung mit den Zuschauern, das ist nur schwer zu beschreiben. Ich will nur ein Beispiel nennen: Als mich ein Zuschauer nach einem gelungenen Sprung spontan umarmte, war ich tief berührt. Ich war bereit, für das Überspringen der nächsten Höhe jedes Risiko einzugehen. Die Begeisterung und die bedingungslose Unterstützung wirkten für mich – und bestimmt auch für die heutigen Teilnehmer – hoch motivierend."
Viel wichtiger für Günther Lohre aber ist die Vorbildfunktion, die das "Recklinghäuser Marktplatzspringen" hat(te): "Wir Stabhochspringer haben Recklinghausen und Organisator Hans Timmermann zu danken für die Pionierarbeit, die hier geleistet wurde. Dass man diese Idee durchgezogen hat und damit zum Vorbild für viele in ganz Europa wurde. Ich denke hier zum Beispiel an den Wettbewerb vor dem Dom von Bologna, an dem ich später teilgenommen habe. Noch einmal: Ohne die Pionierarbeit in Recklinghausen hätte sich diese Veranstaltungsform wahrscheinlich nicht durchgesetzt."
Schwer zu springen
Von 1979 bis 1983 war Günther Lohre Athletensprecher der Deutschen Leichtathletik-Nationalmannschaft, später Trainer, und so weiß er noch wie heute, mit welchen Problemen Veranstalter und Athleten zu kämpfen hatten: "Die Leichtathletik-Organisationen haben diese Spektakel sehr kritisch beäugt und immer neue Regeln aufgestellt..."
Doch zurück zum Springen in Recklinghausen. Haargenau erinnert sich Günther Lohre an jedes Detail: "Da war natürlich – wie erwähnt – die Atmosphäre. Da war dieses familiäre Gefühl, da war diese Lockerheit, dass man vorher noch zu McDonalds gehen konnte und dann nebenan den Wettbewerb bestritt. Die Anlaufbahn bestand aus einer langen Matte, einem roten Teppich, den man für uns ausgerollt hatte. Der Platz war abschüssig, senkte sich kurz vor dem Einstichkasten noch einmal leicht nach rechts ab. Es war technisch sehr, sehr schwer, dort zu springen."
Und wie ein Schwamm saugt er auf, was sich alles geändert hat. Dass es mehr Sponsorenbanner gibt als damals, davon war er ausgegangen. Dass seit 1994 Frauen mitspringen, findet er toll. Dass der "rote Teppich" schon lange ausgedient hat und nun auf einem Anlaufsteg gesprungen wird, hat er gegen Ende seiner Karriere noch erlebt.
Alte Freundschaften
Günther Lohre ist aber nicht der Einzige, der sich gern an Recklinghausen erinnert und dann ins Schwärmen gerät – wie er glaubhaft versichert. "Hin und wieder treffe ich mich mit meinem alten Studienkollegen Greg Stull", gibt der Leonberger die nächste Anekdote zum Besten. Zum besseren Verständnis sei an dieser Stelle angemerkt, dass Günther Lohre in Los Angeles Marketingmanagement und Sportwissenschaften studierte und sich dort mit dem US-Amerikaner, ebenfalls Stabhochspringer, anfreundete.
Nun weiter mit der Geschichte: "Greg stellte mir damals immer diese komischen Fragen über Deutschland. Typisch eben für einen Amerikaner, der sein Land noch nie verlassen hat. Irgendwann hatte ich genug davon und sagte ihm: ,Weißt du was? Komm' mit rüber, du kannst bei mir wohnen und ich zeige dir Deutschland. So haben wir es gemacht, sind hier von Meeting zu Meeting gezogen und so auch nach Recklinghausen gekommen. Das muss 1983 gewesen sein. Greg war völlig überwältigt. So etwas hatte er noch nie erlebt."
Gefragte Telefonnummer
Ohnehin, so Günther Lohre, seien die Amerikaner in dieser Hinsicht immer noch etwas rückständig. Während in Deutschland und Europa in den vergangenen Jahren Meetings wie das in Recklinghausen aus dem Boden geschossen sind, ist ihm in den USA nichts Vergleichbares bekannt.
Mit vielen seiner damaligen Gegner hat Günther Lohre noch Kontakt. Mit Antti Kalliomäki zum Beispiel, dem olympischen Medaillengewinner. Der 58 Jahre alte Lehrer ist seit dem vergangenen Jahr der finnische Bildungsminister. Oder mit Earl Bell, oder Mike Tully. "Mit Wladislaw Kozakiewicz hatte ich lange Kontakt, aber schon seit geraumer Zeit nichts mehr von ihm gehört. Lebt er immer noch in Hannover?" Die Sportredaktion der "Recklinghäuser Zeitung" kann helfen, denn sie hat den Olympiasieger von Moskau 1980 tatsächlich in der Nähe von Hannover ausfindig gemacht. "Mensch, kann ich die Telefonnummer haben? Ich werde ihn sofort mal anrufen!" Klar, kann er.
Auf dem Hoteldach gesessen
Warum eigentlich, Herr Lohre, trifft man sich nicht in Recklinghausen? "Hans Timmermann hat mich zum Jubiläum eingeladen. Das will ich mir nicht entgehen lassen", antwortet der 53-Jährige, "jetzt, wo ich nicht mehr beruflich kreuz und quer durch die Welt reise, sondern wieder in Deutschland bin, wird es höchstwahrscheinlich auch klappen. Ich erinnere mich, dass wir vor ein paar Jahren eine Live-Telefonschaltung von Recklinghausen nach Beirut machen wollten, wo ich zu der Zeit gearbeitet habe. Ich habe stundenlang auf dem Dach meines Hotels gesessen und mir die Finger wund gewählt, aber keine Verbindung bekommen."
Und man plauscht weiter. Über Detlef Harms zum Beispiel, der ebenfalls vor 25 Jahren am Start war, dort als Show-Act über einen Wohnwagen sprang und im vorigen Jahr als Zuschauer das Spektakel verfolgte. "Detlef war schon da? Ja, und zu Gerald Heinrich habe ich auch noch Kontakt. Sein Sohn ist ebenfalls Stabhochspringer, da sieht man sich öfter. Auch Herbert Czingon, der jetzt die Damen trainiert und zu meiner Zeit junger Bundestrainer war, sehe ich öfter. Wenn ein paar von denen kommen würden, dann könnten wir ja ein richtiges Familientreffen veranstalten. So wie früher: Erst nach McDonalds, dann zum Wettkampf..."
Mehr zum Marktplatzspringen:
www.marktplatzspringen-re.de