Berhane Adere, die flotte Dame aus der Läufer-WG
Die Karten werden neu gemischt. Paula Radcliffe, die Power-Frau von der britischen Insel, hat ihre Weltmeisterschafts-Teilnahme schweren Herzens abgeblasen. Aus und vorbei. Vor zwei Jahren in Edmonton war die Marathon-Spezialistin "nur" Vierte geworden im 10.000-Meter-Finale hinter einem Trio infernale aus Äthiopien. Berhane Adere hatte damals Silber gewonnen. Gold soll es am Eröffnungstag der WM werden. Gold made in Germany. Denn ihre Wahlheimat liegt im beschaulichen Ostwestfalen: in Detmold.
Bernhane Adere ist Hallen-Weltrekordlerin über 3000 Meter. (Foto: Chai)
Natürlich erzählt sie sich wunderbar: die Geschichte von den Jungs und Mädchen, die barfuß über Stock und Stein, durch die Savanne zur Schule oder sonst wohin rennen – die das Laufen im Blut und im Herzen haben. Und natürlich denkt man daran, wenn Berhane Adere, die flotte Dame aus Äthiopien, die regelmäßig zum Trainieren in ostwestfälischen Detmold weilt, ihren Gegnerinnen auf und davon stürmt mit so langen Beinen, dass der rote Kunststoffbelag unter ihnen hinweg zu tauchen scheint. "Aber bei mir trifft dieses Klischee nicht zu", sagt sie mit leisem Lächeln, "ich war längst nicht mehr in der Schule und schon achtzehn, als ich mit dem Laufen angefangen bin." Heute ist sie 30 und eine große Nummer in der Laufszene.Einst als Polizistin im Dienst
Jahrelang trainierte sie hart und kämpfte schwer um Anerkennung im Zirkus der Sensationen. Und dennoch lief Berhane Adere stets an der Aufmerksamkeit der Leichtathletik-Fans vorbei. Um so mehr profitierte sie von der Zusammenarbeit mit Volker Wagner, ihrem Mentor, der in Diestelbruch, einem kleinen Nest nahe bei Detmold, Deutschlands ungewöhnlichste Läufer-WG mit meist jungen, hungrigen Athleten aus dem fernen Afrika betreut.
Berhane Adere, die einst als Polizistin ihre Brötchen verdiente, ist die "Beste" in Wagners Rennstall. "Ihr Plus ist die Vielseitigkeit", lobt er die grazile Person, die gerade mal 48 Kilo wiegt, die sich auf 1,70 Meter Körpergröße verteilen, "sie kann überall laufen: sei es auf der Bahn, auf der Straße oder in der Halle."
Am liebsten daheim in Addis Abeba
In dieser Saison war Berhane Adere, die Hallenweltrekordlerin über 3000 Meter, pausenlos unterwegs. "In Detmold", berichtet Wagner, "trainiert sie meist mit Joyce Chepchumba." Allerdings ist die Kenianerin, die am Schlusstag der WM den Marathon bestreiten wird, mehr auf die Straße fixiert, sie hingegen konzentriert sich im Sommer voll und ganz auf die Bahn. "Deshalb ist Berhane häufig auf sich allein eingestellt", fügt er hinzu, "außerdem muss sie regelmäßig zurück nach Äthiopien." Denn die Verbandsoberen sind sehr streng und verlangen von den Athleten, dass sie sich unter Anleitung der Nationaltrainer auf die internationalen Großereignisse vorbereiten.
Das sei allerdings nicht weiter schlimm. Denn wenn sie nicht gerade im Flieger, natürlich Business Class, durch die Weltgeschichte tingelt und von Rennen zu Rennen düst, ist Berhane Adere ohnehin am liebsten daheim bei ihrer Familie in Addis Abeba, wo ihr Sohn eine Privatschule besucht. Erpassa Lami, ihr Ehemann, ist ebenfalls heimatverbunden. Wie seine besser Hälfte läuft auch er - je länger, um so lieber! Er ist Marathonläufer und eifert berühmten Vorbildern nach. Von Abebe Bikila und Mamo Wolde ist die Rede, zwei Heroen der Vergangenheit, die bei Olympischen Spielen drei Goldmedaillen gewonnen haben.
Marathon weiter kein Thema mehr
Marathon. 42,195 Kilometer am Stück. Berhane Adere hat an die klassische Distanz nur ungute Erinnerungen. Ihr Debüt im April 2001 in Rotterdam ist gründlich schief gegangen. "Damals fehlte ihr die richtige Basis", entschuldigt Wagner die schwache Vorstellung, "der Körper hat nicht so reagiert, wie wir gedacht hatten." Saft- und kraftlos trabte sie in 2:41:50 Stunden durchs Ziel und landete weit abgeschlagen auf Platz fünfzehn.
Einen zweiten Versuch hat sie ähnlich wie Haile Gebrselassie ad acta gelegt. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben! "Irgendwann mal", sagt Berhane Adere und spielt auf Zeit. "Die WM in Paris", fügt Wagner geschwind hinzu, "war von Anfang an das primäre Ziel." Beide planen das Double: erst die 10.000 Meter, dann die 5000 Meter. Und nachher im Oktober kann es durchaus sein, dass sie bei der Halbmarathon-WM in Vilamoura nach Brüssel einen weiteren Titel anvisieren wird.
Finanziell auf der sicheren Seite
Berhane Adere, die Power-Frau, die bei ihren Europa-Trips oft Zuflucht sucht in der ostwestfälischen Idylle, um ein wenig zu verschnaufen vom Reise-Stress, hat finanziell längst ausgesorgt. Dank ihrer wieselflinken Beine, die so raumgreifende Schritte zulassen, dass sie für die Konkurrenz bisweilen unerreichbar erscheinen mag. Stolze 60.000 Dollar Prämie winken ihr bei einem Triumph auf der 25 Runden langen Distanz, eine Menge Geld, noch dazu in Äthiopien, einem der Armenhäuser auf diesem Erdball, das immer wieder von Hungersnöten gebeutelt wird.