Familienbande - Die Kurschilgens
Eigentlich wollte sich Lisa Kurschilgen nicht in die „Kiste Leichtathletik“ pressen lassen. Auf die Frage: „Machst du auch Hochsprung?“ hatte sie keine Lust. Mittlerweile hat sie ihre Disziplin gefunden: Im Weitsprung setzte sich die 17-Jährige im vergangenen Sommer mit 6,10 Metern überraschend an die Spitze der deutschen B-Jugend. Wer ihre Mutter Brigitte kennt, weiß, dass das Sprungtalent nicht von ungefähr kommt.
Brigitte Kurschilgen, geborene Holzapfel, war Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger Jahre eine der besten deutschen Hochspringerinnen. Ihre Bestleistung im Freien stammt aus dem Jahr 1978. Bei den Deutschen Meisterschaften in Köln gewann sie mit 1,95 Metern den Titel und stellte den deutschen Rekord von Ulrike Meyfarth ein, die diese Höhe kurz zuvor im selben Wettkampf gemeistert hatte. Knapp drei Wochen darauf holte sie mit erneut 1,95 Metern EM-Bronze.Die gebürtige Krefelderin hatte erst im Alter von 14 Jahren mit der Leichtathletik begonnen. Schon drei Jahre später wurde sie Junioren-Europameisterin im Fünfkampf. In der anschließenden Hallensaison fiel die Entscheidung, sich ganz dem Hochsprung zu widmen. Ein weiteres Jahr darauf stellte sie mit 1,91 Metern eine neue deutsche Jugend-Hallen-Bestleistung auf. Vier Athletinnen konnten in der Zwischenzeit mit ihr gleich ziehen, zuletzt Mitte Januar Kimberly Jeß (LG Rendsburg/Büdelsdorf). Höher hinaus kam bisher jedoch keine deutsche Jugendliche.
Zweimalige Olympia-Teilnehmerin
Auch zwei Teilnahmen bei Olympischen Spielen sind in der langen Liste der Erfolge von Brigitte Kurschilgen zu finden. Sowohl 1976 in Montreal (Kanada) als auch 1984 in Los Angeles (USA) belegte sie den elften Platz. Den Start in Los Angeles empfindet die heute 50-Jährige noch immer als etwas ganz Besonderes: „Von außen wurde das gar nicht unbedingt als so außergewöhnlich beschrieben. Aber ich hatte vorher zwei Achillessehnenrisse und habe es ein Jahr nach der zweiten Verletzung geschafft, mich wieder für die Olympischen Spiele zu qualifizieren. Das war eigentlich der größte Erfolg für mich.“
Der dritte Achillessehnenriss setzte schließlich endgültig den Schlusspunkt unter die aktive Karriere der 1,83 Meter großen Athletin. Der Beendigung ihres Sportstudiums und dem weiteren Engagement im Bereich Sport sollte dies nicht im Wege stehen: „Klar war, dass ich gerne mit jungen Menschen zusammenarbeiten wollte. Aber ich habe zuerst eher an den Lehrberuf gedacht und als zweites Fach auch noch textiles Gestalten studiert.“
Aus einer Anstellung als Lehrerin wurde jedoch nichts: Der TV Wattenscheid 01 suchte für sein Teilinternat eine weibliche Betreuung für die Mädchen, und so trat Brigitte Kurschilgen ihre erste Stelle als Trainerin an. Hier lernte sie auch ihren Mann Thomas kennen, selbst einstiger Leichtathlet, Diplomsportlehrer und zu dem Zeitpunkt ebenfalls Trainer in Wattenscheid.
Seit 1995 DLV-Disziplintrainerin
1991 kam Tochter Lisa zur Welt, zwei Jahre später wurde Sohn Felix geboren. Ihrer Beschäftigung als Trainerin blieb die zweimalige Olympia-Teilnehmerin trotzdem treu. Sie wechselte zunächst zur LG Olympia Dortmund, übernahm 1995 die Betreuung des weiblichen Hochsprung-Nachwuchses des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV). Seit 2002 ist sie außerdem verantwortlich für die DLV-Frauen, 2006 kamen auch noch die Männer hinzu.
So bleibt es nicht aus, dass die DLV-Disziplintrainerin häufig unterwegs ist. Meist ist sie dabei nicht alleine. Schon im jungen Alter wurden die Kinder mit auf den Sportplatz genommen, und auch heute kommt Tochter Lisa gerne mit, wenn die Mutter quer durch die Republik reist. „Je älter ich wurde, umso mehr Leute kannte ich persönlich. Wenn die dann bei Wettkämpfen laufen oder springen, ist das Interesse natürlich schon da“, erklärt die Schülerin.
Thema Leichtathletik anfangs tabu
In der Familie Kurschilgen wird sportliche Bewegung groß geschrieben. Lisa Kurschilgen versuchte sich zunächst im Turnen, Judo und Trampolinspringen. „Aber ehrlich gesagt war es ja klar, dass ich mit zwei Leichtathleten als Eltern auch irgendwann in die Leichtathletik reinrutsche“, berichtet sie. Nur der jüngere Bruder Felix hat sich bisher standhaft geweigert, dieselbe Sportart wie der Rest der Familie zu wählen: „Dazu konnte ihn keiner bewegen.“
Zehn Jahre alt war die talentierte Weitspringerin, als sie das erste Mal beim Leichtathletik-Training vorbeischaute - damals allerdings noch mit einer ordentlichen Portion Skepsis. „Ich habe es, als ich jünger war, immer schwierig gefunden, mich da reinzufinden, mit so einer Mutter vor der Nase“, sagt sie rückblickend lachend.
Brigitte Kurschilgen kann das bestätigen. Das Thema Leichtathletik sei in der Familie zwar allgegenwärtig, doch was Tochter Lisa betraf, war lange Zeit Vorsicht angesagt. „Sobald wir nach dem Training den Fuß ins Auto gesetzt haben, war das Thema erledigt. Nur, wenn sie selbst damit angefangen hat, haben wir darüber geredet. Am Anfang ist es mir schwer gefallen, das zu akzeptieren. Aber es war die einzige Chance, ihr nicht zu viel Druck zu machen.“
Sommertraining beim Vater
Trotz angezogener Handbremse verdeutlichten bereits Lisa Kurschilgens Leistungen in den Schülerklassen ihr leichtathletisches Talent. Schon als 15-Jährige sprang sie 1,62 Meter hoch und 5,42 Meter weit, tauchte auch im Sprint und mit der Staffel der LG Olympia Dortmund in den westfälischen Bestenlisten auf. Im Jahr darauf konnte sie sich jedoch aufgrund eines sechsmonatigen Neuseeland-Aufenthalts und muskulärer Probleme nicht verbessern.
Die Freiluftsaison 2008 begann dann wieder vielversprechend: Gleich im ersten Wettkampf steigerte die Athletin der LG Olympia Dortmund ihre Weitsprung-Bestleistung auf 5,70 Meter. Nur wenig später folgte aber gleich die nächste Verletzung, sodass für die damals B-Jugendliche erst in den Sommerferien wieder ein schmerzfreies Training möglich war. Da Trainerin und Mutter Brigitte zu diesem Zeitpunkt bei den Olympischen Spielen in Peking (China) war, übernahm Vater Thomas das Kommando.
Der Einsatz des einstigen Stabhochspringers, der den Leichtathletik-Freunden auch als ehemaliger Vize-Präsident der LG Olympia Dortmund sowie als Mit-Organisator des Dortmunder Hallen-Meetings bekannt ist, trug Früchte. Beim Sportfest in Düsseldorf-Rath landete Lisa Kurschilgen Ende August bei 6,10 Metern und steigerte sich so noch einmal um ganze 40 Zentimeter. „Ich habe mich an dem Tag richtig gut gefühlt. Ich habe mich aufgewärmt, ein paar normale Sprünge in die Grube gemacht und gedacht: Das sieht gut aus. Aber dass es so weit gehen würde, habe ich nicht erwartet.“
Doppelbelastung in Peking
Während Vater und Tochter im Sommer also gemeinsam auf dem Sportplatz schwitzten, erlebte Brigitte Kurschilgen ihre zweiten Olympischen Spiele als Trainerin. 2000 in Sydney (Australien) gehörte sie zum Betreuerstab von Siebenkämpferin Sabine Braun. In Peking war sie als einzige Disziplintrainerin im Olympischen Dorf untergebracht und unterstützte Silvia Schwinn, Assistentin Leistungssportförderung im DLV, vor Ort bei organisatorischen Aufgaben. In erster Linie stand sie aber den beiden DLV-Hochspringern Raul Spank (Dresdner SC 1898) und Ariane Friedrich (LG Eintracht Frankfurt) zur Seite.
Trotz ihrer langjährigen Erfahrung als Trainerin ist die Aufregung bei Wettkämpfen ein ständiger Begleiter: „Man steht unter einer ganz hohen Belastung, nicht nur bei Olympischen Spielen. Und wenn man ein gutes Verhältnis zu den Athleten hat, dann bleibt es gar nicht aus, dass man ähnlich nervös wird. Vielleicht ist es auch so, dass man, wenn man diese Dinge selbst mitgemacht hat, sehr viel empathischer ist und alles besser nachvollziehen kann.“
Tochter soll eigenen Weg gehen
Seit mittlerweile über 30 Jahren ist Brigitte Kurschilgen als Aktive und Trainerin dem Spitzensport treu. Wenn sie zurückblickt, überwiegen eindeutig die positiven Erinnerungen. „Ich glaube, dass man nur mit so einer Einstellung zum Leistungssport das machen kann, was ich heute mache“, erklärt sie, und in ihrer Stimme ist deutlich die Leidenschaft für ihren Sport herauszuhören. „Die Auseinandersetzung mit Niederlagen, die Zielorientiertheit, die Konzentration auf bestimmte Sachen - das formt einen fürs Leben.“
Bedeutet dies, dass sie sich für ihre Tochter einen ähnlichen Weg wünscht? Die Antwort darauf fällt sehr differenziert aus: „Dazu gehören ja ganz viele Sachen. Es reicht nicht allein, talentiert zu sein. Der Körper muss mitspielen, die Motivation muss da sein. Bei einer derartigen Lebensführung muss man viele Einschränkungen in Kauf nehmen.“
Die 50-Jährige weist auf die Gefahr hin, sich allein auf den Sport zu konzentrieren. Nachdem sie selbst verletzungsbedingt ihre aktive Karriere beenden musste, habe sie die Arbeit an der Diplomarbeit wieder aufgefangen. So sei es ihr wichtig, dass sich Lisa auch beruflich orientiert: „Lisa hat nicht nur meine vollste Unterstützung, sondern auch die meines Mannes, egal, wie sie sich entscheidet. Aber die Entscheidung muss sie alleine treffen.“
Leistungsstabilisierung Ziel für 2009
Noch kann sich Lisa Kurschilgen mit dieser Entscheidung Zeit lassen. Im Moment bewegt sie sich „irgendwo zwischen Hobby und Leistungssport“, nach anfänglicher Zurückhaltung nimmt die Leichtathletik aber mittlerweile ihren Lebensmittelpunkt ein. Auch die Ansprüche an sich selbst und die eigene Leistung sind gestiegen.
In diesem Jahr wird sie erstmals in der A-Jugend an den Start gehen. Sie hat sich die Qualifikation für die Deutschen Meisterschaften zum Ziel gesetzt, will aber vor allem die Weiten aus dem Vorjahr bestätigen und stabilisieren. Hallenwettkämpfe wird Lisa Kurschilgen nicht bestreiten, da sie aufgrund von Rückenbeschwerden erst vor kurzem das Aufbautraining aufnehmen konnte. Aber nicht zuletzt ihre Mutter hat ja bereits bewiesen, wie weit man es trotz Verletzungsrückschlägen schaffen kann.
Mutter und Tochter gemeinsam unterwegs (Foto: Gantenberg)
Es gibt sie oft, die erfolgreichen Geschwister und Familien in der deutschen Leichtathletik. Sie sind zahlreicher als man vielleicht anfangs vermutet. Verstärkt die gemeinsam verbrachte Zeit noch das familiäre Zusammengehörigkeitsgefühl? Ist das Konkurrenzdenken innerhalb einer Familie aufgehoben? leichtathletik.de geht diesen Fragen in einer Serie nach.