Foto-Finish - Hauptdarsteller im Nervenkrimi
So mancher Athlet hat den Nervenkrimi Foto-Finish schon mal aufgeschlagen und wünscht sich seitdem nichts mehr, als dieses Kapitel nie wieder erleben zu müssen. Das Zielfoto: Entscheidungstreffer über der einen Freud und der anderen Leid. Wisst Ihr noch? Genau zehn Jahre ist es her, als die ehemalige Dortmunder Sprinterin Andrea Ziercke, damals bekannt als Andrea Philipp, diesen einen Nervenkrimi am eigenen Leib erfahren durfte.
In Gedanken befinden wir uns bei den Weltmeisterschaften im spanischen Sevilla, als eine kleine Frau mit Kurzhaarschnitt noch einmal alle ihre Kräfte mobilisiert und in das 200 Meter-Finale der Frauen sprintet. Ein großes Ziel ist erreicht, schlechter als der achte Platz geht jetzt nicht mehr. Der Startschuss ertönt, Andrea Ziercke ist in ihrer eigenen Welt, alles außen rum ist abgeschaltet. Die Ziellinie ist in Sicht, dann der Schock: „Ich drehe mich um und gucke auf die große Video-Wall und war im ersten Moment überrascht, dass ich soweit vorne war“, erinnert sich die Ex-Dortmunderin.Dann setzte der Nervenkrimi ein. Die Handlung ist eigentlich ganz einfach: Der Blick vierer Athletinnen ist gebannt auf die Videowand gerichtet. Eines ist klar, Siegerin ist die US-Amerikanerin Inger Miller, es folgt die Jamaikanerin Beverly McDonald, doch was dann? Eine Kopf-an-Kopf-Entscheidung zwischen Andrea Ziercke und der Jamaikanerin Merlene Frazer. Nach einigen Minuten dann das Ergebnis: Andrea Ziercke mit 22,25 Sekunden zeitgleich auf Rang vier.
Enttäuschung, Trauer und Wut nach Entscheidung
Ein Stich fährt der deutschen Sprinterin durch Mark und Bein. „Ich war so wütend, da bist du den Lauf deines Lebens gerannt und wirst hier so beschissen und bekommst den vierten Platz“, dachte sich Andrea Ziercke. Was sind das für Gefühle, die einen Athleten in solch einem Moment bestimmen: Enttäuschung, Trauer, Wut? Alles zusammen? „Den Sport hatte ich in diesem Moment schon abgehakt. Ich wollte einfach nicht mehr“, beschreibt die Sprinterin rückblickend ihr Gefühl.
Doch wie gehen die Ereignisse weiter? Schnell die Siegerehrung, noch bevor der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) Protest einreichen konnte. Die Journalisten Lutz Bongarts (Foto) und Wolf-Dieter Poschmann (ZDF) haben selbst hervorragendes Bild-Material und bieten ihre Unterstützung an. Die Maschinerie wird ins Rollen gebracht. Die Jury tagt. Nachts dann die Entscheidung und positive Wende des Krimis: Andrea Ziercke bekommt nachträglich die Bronze-Medaille - Happy End! Das Zielfoto hat die Sprinterin mit nach Hause genommen. „Selbst hochaufgelöst konnte man mit bloßem Auge nicht wirklich einen Unterschied sehen“, erinnert sich Andrea Ziercke.
Nervenkrimi auch bei Kirsten Bolm
Das Zielfoto: In diesem Fall brachte es dann doch noch verspätet Freude. Ähnlich zittern musste auch die ehemalige Hürdensprinterin Kirsten Bolm 2006 bei der Europameisterschaft in Göteborg (Schweden). Hier waren sich die Zielbildauswerter nicht sicher und so hieß es zunächst, Silbermedaille, dann Bronzemedaille und schließlich doch die Silbermedaille. Die Mannheimerin kam exakt zeitgleich mit der Irin Derval O’Rourke ins Ziel und beide bekamen letztendlich den zweiten Platz. „Ich habe ganz schön gebibbert und zuerst gedacht, gar keine Medaille gewonnen zu haben. Es ist nur gerecht, ein Happy End“, erklärte Kirsten Bolm damals.
Solche Fälle gibt es immer wieder und auch in diesem Jahr werden die Dramen nicht ausbleiben. Doch seit wann existiert das Zielfoto eigentlich? Die erste Zielfoto-Entscheidung gab es bereits 1912 bei den Olympischen Spielen in Stockholm (Schweden). Hier wurde eine elektronische Zeitmessanlage installiert und gleichzeitig auch eine Kamera. Allerdings hatten die Kampfrichter noch ihre Bedenken und so wurde diese Anlage nur inoffiziell genutzt.
Über die 1.500 Meter-Distanz kam es jedoch zu einer äußerst knappen Entscheidung, da hinter dem Briten Arnold Jackson (3:56,8 min) die US-Amerikaner Abel Kiviat und Norman Taber zeitgleich in 3:56,9 Minuten ins Ziel kamen. Hier zog man schließlich das Zielfoto zu Rate und entschied sich zu Gunsten von Abel Kiviat.
1932 das erste offizielle Zielfoto
Dann, bei den Olympischen Spielen in Amsterdam (Niederlande), wurde bereits eine Zeitlupenkamera aufgestellt, doch auch diese war nur als Assistent eingesetzt und nicht entscheidend. Erst 1932 bei den Olympischen Spielen in Los Angeles (USA) mischte sich das Zielfoto offiziell in das Wettkampfgeschehen ein. Der US-Amerikaner Gustavus T. Kirby, als Präsident der Amateur-Athletik Union präsentierte einen von ihm erfundenen Zeitmessapparat - eine Zwei-Augen-Kamera, die ein zweites Objektiv hatte, in das eine Uhr eingeblendet wurde. Ausgelöst wurde das Foto an der Ziellinie noch per Hand.
Seitdem hat sich technisch so einiges geändert. Arnd Heiken ist deutscher Zielbildauswerter und entscheidet nun schon 25 Jahre über Sieg oder Niederlage. „Angefangen habe ich mit Sofortbildkameras. Das lief so ähnlich ab, wie bei einem Polaroid-Bild“, erinnert sich der Kampfrichter, der Ende 2007 auch einen Lehrgang für Nationale Zielbildauswerter als Referent betreute und seine Erfahrungen weitergeben konnte. „Anschließend hat man das dann auf ein Auswertetischchen gelegt, wo man einen rechten Winkel erzeugen konnte und hat mit diesem Winkel den Rumpf quasi angefahren. Unten hatte man eine Zeitskala, so dass man die Zeit ziemlich genau ablesen konnte.“
Digitale Zeitmessung im 10.000stel-Bereich
Ende der Achtziger Jahre gab es dann eine Entwicklung hin zur Zeitmessung auf Videobasis. Eine normale Videokamera war auf die Ziellinie ausgerichtet und filmte den Zieleinlauf. Anschließend wurden die Filme auf einem kleinen Fernsehgerät ausgewertet. Anfang der Neunziger Jahre begann dann das Zeitalter der digitalen Zielbildauswertung. Hierbei entstehen um die 5.000 Bilder pro Sekunde, die von dem Computer dann wieder zusammengesetzt werden, so dass ein Zielfoto erscheint, in welches man Linien hineinziehen und somit die Zeit im Tausendstel-Bereich genau bestimmen kann. Mittlerweile ist sogar eine Bestimmung im 10.000stel-Bereich möglich.
Alexander Grimm ist ebenfalls nationaler Zielbildauswerter. Er kennt das System genau, da er durch Wochenendseminare gezielt auf diese Aufgabe vorbereitet wurde. „Es gibt nicht viele Leute, die eine Anlage nicht nur bedienen, sondern auch aufbauen und ausrichten können“, erklärt er seinen häufigen Einsatz in dieser Funktion. Auch die Internationalen Wettkampfregeln (IWR) sind ihm bekannt. So muss es immer einen Obmann Zielbildauswertung geben, sowie zwei Assistenten, außerdem gibt es bei ganz großen Meisterschaften einen internationalen Kampfrichter für Zielbildverfahren, der vom Weltverband IAAF berufen wird. Der Zielbildauswerter ist im Laufe der Zeit immer wichtiger geworden, denn mittlerweile, so Alexander Grimm, gäbe es bei jeder Veranstaltung ungefähr drei Läufe mit einem so knappen Ergebnis, dass man es mit dem bloßen Auge nicht mehr sehen könne.
Arnd Heiken erinnert sich ebenfalls: „Früher gab es die elektronische Zeitmessung und das Zielbild bei nationalen Meisterschaften, vielleicht auch bei Landesmeisterschaften. Heute findet man solche Anlagen bereits bei Kreismeisterschaften!“
Bestseller mit Happy-End
Der Nervenkrimi setzt seine Erfolgsgeschichte also fort! Eine durchaus positive Finesse hat er jedoch: Das Happy-End, denn nicht selten wird in Fällen von absoluter Zeitgleichheit zu Gunsten beider Athleten entschieden.
Ein besseres Ende hatte Verena Sailer (MTG Mannheim) bei der U23-Europameisterschaft 2007 in Debrecen (Ungarn), wo sich die Kampfrichter nach einem Foto-Finish zu ihren Gunsten ausgesprochen haben und sie sich anschließend U23-Europameisterin über die 100 Meter nennen durfte und das ganz alleine.