Gete Wami auf Paula Radcliffes Spuren
Sie sind Rivalen auf der Kunststoffbahn und im unwegsamen Gelände. Und bald auch auf der Straße! Gete Wami, die Powerfrau aus Äthiopien, bewegt sich auf den Spuren von Paula Radcliffe, der schnellsten Marathonläuferin aller Zeiten. Zwei Mal werden sie in dieser Saison aufeinander prallen, und beide Male geht's um die Goldmedaille: bei der Cross-WM in Brüssel und bei den Olympischen Spielen in Athen, wo sowohl Paula Radcliffe als auch Gete Wami die klassische Distanz über stramme 42,195 Kilometer im Visier haben.
Gete Wami - eine Name für das Olympiajahr!?
Nach der Geburt ihrer Tochter im vergangenen Sommer musste Gete Wami tatenlos zuschauen, wie Berhane Adere, ihre Landsfrau, bei der WM im "Stade de France" die 10.000 Meter gewann. Paula Radcliffe fehlte auch bei dem Großereignis in Paris, weil sie gesundheitlich nicht auf der Höhe war. Mittlerweile sind beide wieder topfit. Paula Radcliffe, die im Dezember noch Cross-Europameisterin geworden war, weilt momentan in den USA, um sich in leistungsfördernder Höhenluft auf die kommenden Aufgaben vorzubereiten. Gete Wami ist daheim in Addis Abeba, wo sie tagein, tagaus ein riesiges Kilometerpensum absolviert, denn sie hat ein großes Ziel vor Augen: den London-Marathon am 18. April.Aber vorher lockt noch die Cross-WM in Brüssel. Auf belgischem Boden hat sie schon mal vier Medaillen an zwei Tagen eingesackt: 2001 in Ostende, als sich die weltbesten Gelände-Spezialisten im Wellington Hippodrome einen "Showdown" im knöcheltiefem Morast lieferten. Damals schnappte sie sich zwei Gold- und zwei Silbermedaillen in Einzel- und Mannschaftswertung und war die erfolgreichste Teilnehmerin dieser Großveranstaltung.
Cross-Meriten verdient
Nach ihrer überraschenden Niederlage auf der Langstrecke gegen Paula Radcliffe triumphierte sie tags darauf auf der kurzen Distanz und feierte ihren dritten Einzeltitel. 1996 in Kapstadt und 1999 in Belfast thronte sie bereits hoch oben auf dem Podest. "Ich habe noch keine Läuferin gesehen, die so gut spurten kann", lobte Derartu Tulu, Doppel-Olympiasiegerin über 10.000 Meter, ihre Trainingspartnerin, "dabei sieht man ihr gar nicht an, wie viel Kraft in ihren Beinen steckt."
Mit 155 Zentimetern Körperlänge und 46 Kilo Gewicht wirkt Gete Wami so klein und zerbrechlich, dass man ihren Ehemann, den einstigen Marathonläufer Geteneh Tessema, am liebsten bitten würde, er möge seine bessere Hälfte vorsorglich auf den Arm nehmen und behutsam ins Ziel tragen.
Harte und härtere Arbeit
Gete Wami, 1999 auch Weltmeisterin über 10.000 Meter, hat in ihrem Leben nichts geschenkt bekommen. Aufgewachsen ist sie mit ihren beiden Brüdern und drei Schwestern in Debre Birhan, einem Ort mit etwa 9000 Einwohnern, der 2840 Meter über dem Meeresspiegel liegt. Dort oben, im Hochland des Nilquellengebiets, verdient sich ihr Vater seinen kargen Unterhalt als Rinderzüchter. "Laufen kann manchmal hart sein", meinte seine flotte Tochter, "doch die Arbeit auf der Farm ist noch viel, viel härter."
Michel Boeting, Athletenbetreuer bei "Global Sports Communication", dem Management-Büro von Jos Hermens, kann sich durchaus vorstellen, dass sie in Brüssel starten wird: "Gete hat über die Cross-WM gesprochen, und sehr wahrscheinlich wird sie auch da sein." Wenn sie diesen Wettkampf mit dem London-Marathon kombinieren kann, wenn es gut läuft im Training, dann spricht nichts gegen einen Kurz-Trip nach Belgien.
Kenenisa Bekele schwärmt
Kenenisa Bekele, amtierender Weltmeister über 10.000 Meter, heizte die Spekulationen noch an, als er nach dem IAAF-Cross in Sevilla verkündete: "Gete ist in hervorragender Form und hat sehr hart trainiert." Sollte sie starten, muss sich die gesammelte Konkurrenz warm anziehen.
Nach ihrem famosen Marathon-Einstieg im Oktober 2002 in Amsterdam, wo sie mit 2:22:19 Stunden Landesrekord lief und obendrein die zweitschnellste Zeit einer Debütantin auf die Straße zauberte, möchte Gete Wami vier Wochen später in London das Olympia-Ticket lösen.
Kenny Bekele traut ihr eine weitere Leistungssteigerung zu, doch auf einen Tipp, wer von beiden in Athen die Nase vorn haben wird, wollte er sich nicht festlegen. "Das weiß ich auch nicht", druckste er herum, "Paula ist eine so große Athletin." Da halte er sich besser heraus.