Girma Tola, der Sieger von Enschede
Müde war er. Hundemüde. Girma Tola setzte sich auf seinen Hosenboden und streckte alle Viere von sich. In stillen Zügen genoss er den Triumph beim Marathon in der deutsch-holländischen Grenzstadt Enschede. Jos Hermens, sein Manager, eilte herbei und klopfte ihm so kräftig auf die Schulter, als wolle er ihm den Ritterschlag verleihen.
Girma Tola als abgekämpfter Sieger (Foto: Hörnemann)
"Well done", sagte Jos Hermens und strahlte, "gut gemacht." Sein Schützling hatte den Uralt-Streckenrekord von Marti ten Kate auf 2:10:33 Stunden gesteigert.Das Leben in Äthiopien, einem Vielvölkerstaat mit 67 Millionen Einwohnern, ist karg und eintönig. Dagegen ist die Lauferei das pure Vergnügen. Girma Tola, einer von vielen Naturburschen, denen das Talent in die Wiege gelegt wurde, verdient den Unterhalt mit seinen schnellen Beinen. Er ist Langstreckler und kommt wie Haile Gebrselassie aus Addis Abeba, der überfüllten Hauptstadt, wo knapp drei Millionen Menschen zu hause sind. Arm sind die meisten von ihnen, bettelnd ziehen viele durch die Straßen und halten verzweifelt die Hand auf.
Girma Tola, 27 Jahre jung, hat's besser als viele seiner Landsleute, die ein Leben am Rande des Existenzminimums fristen. Ihm geht's gut. Er ist ein Pendler zwischen den Welten. Mal weilt er daheim in Addis Abeba, wo seine Frau hochschwanger auf die Geburt ihres ersten Kindes wartet, mal trainiert er in Mexico unter Anleitung von German Silva, dem einstigen Doppelsieger des New York-Marathons. Oder er ist in Holland, bevorzugt in Nijmegen, seiner zweiten Heimat, wo Jos Hermens rund 120 Athleten aus 27 Nationen betreut.
Übernervös am Start
Der Marathon-Klassiker von Enschede, hinter Kosice die zweitälteste Veranstaltung in Europa, stand rot eingekreist in seinem Terminkalender. Nervös war er vorm Start. Übernervös wie fast alle Teilnehmer, über 3000 an der Zahl, die auf dem Marktplatz in Reih und Glied Aufstellung genommen hatten.
Die "Hasen" gaben von Anfang an eine flotte Fahrt vor, die Girma Tola und James Kipketer, ein Kenianer, der als sein Hauptkonkurrent gehandelt wurde, bereitwillig annahmen. "Girma Tola", hatte Getaneh Tessema, Ehemann von Gete Wami, vorher prophezeit, "ist prima in Form."
Getaneh Tessema, früher selber ein Läufer der Extraklasse und heute einer der engsten Mitarbeiter von Jos Hermens, behielt Recht. Scheinbar mühelos absolvierte Girma Tola die erste Hälfte in 1:04:35 Stunden. Da war James Kipketer schon abgefallen. Luke Kibet drückte unablässig aufs Tempo. Girma Tola legte sich in seinen Windschatten und lauschte den Anweisungen von Jos Hermens, der auf dem Sozius eines Motorrads die Spitze begleitete.
Luke Kibet, der Schlingel
Luke Kibet, der Schlingel, den Hermens nur als "Pacemaker" verpflichtet hatte, dachte jedoch gar nicht daran, das Rennen wie vereinbart nach 30 Kilometern zu beenden. Er rannte auf eigene Faust weiter und riss mit einer resoluten Steigerung sofort ein Loch zwischen sich und seinen Begleiter, der sichtlich perplex war. Jos Hermens redete auf ihn ein, sprach ihm Mut zu und feuerte ihn pausenlos an. "Go on", rief er ihm lauthals zu, "faster, faster."
Viel schneller wurde er zwar nicht. Dennoch kam Girma Tola näher und näher, weil Luke Kibet sich bei seinem Ausreißversuch übernommen hatte. Er schwächelte und ließ Girma Tola kurz hinter der 40-Kilometer-Marke ohne jedwede Gegenwehr passieren.
Die letzten Meter auf der schmalen Zielgeraden waren für Girma Tola, 1999 noch WM-Vierter über 10.000 Meter, ein einziger Triumphzug. Eingehüllt vom brausenden Applaus der Zuschauer, die links und rechts hinter den Barrieren standen, stürmte er durchs Zielband. 2:10:33! Das waren die Zahlen auf der elektronischen Uhr. Damit war der 15 Jahre ale Streckenrekord (2:10:57 h) geknackt. Endlich!
Rekord war fällig
"Das wurde auch Zeit", meinte ten Kate, der Lokalmatador, der den neuen Kurs mit der Schleife durchs deutsche Städtchen Gronau ausgetüftelt hatte, und überreichte seinem Nachfolger einen Riesenstrauß Blumen. "Glückwunsch", lobte er Girma Tola, "der Rekord war überfällig."
Girma Tola hockte sich erst mal auf den kalten Boden. Geschafft war er, aber happy. Auch über den anschließenden Geldsegen, denn 5.000 Euro Prämie sind sehr viel Geld für ihn, der aus Äthiopien stammt, einem der Armenhäuser auf diesem Erdball.
Enschede-Marathon (16.5.2004)
Männer:
1. Girma Tola ETH 2:10:33
2. Luke Kibet kEN 2:11:13
3. Degene Nigussie ETH 2:13:53
4. Teferi Bacha ETH 2:14:09
5. Jackson Kipchumba KEN 2:15:37
6. Abiyote Guta ETH 2:15:56
Frauen:
1. Nadja Wijenberg HOL 2:31:23
2. Tigist Abidi ETH 2:38:00
3. Petra Kamninkova CZE 2:41:12