Haile Gebrselassie, ein Kraftwerk auf zwei Beinen
Die Menschen in Hengelo, eine 150.000 Einwohner zählende Industriestadt nahe der deutsch-holländischen Grenze, haben ihn längst als "Ehrenbürger" akzeptiert. Haile Gebrselassie, der Wunderläufer aus Äthiopien, ist ein Star ohne Allüren. Olympiasieger war er, Weltmeister, gleich mehrmals. Er ist ein Star, aber ohne Allüren, der ungeachtet aller Titel, die er in seiner unvergleichlichen Karriere gesammelt hat, schön auf dem Teppich geblieben ist.
Strahlemann Haile Gebreselassie ist gern gesehen in Hengelo (Foto: Hörnemann)
Alle Jahre wieder in Hengelo, am Sonntag Schauplatz des Grand Prix II-Meetings, dirigiert er die Zuschauer im engen "Fanny Blankers Koen Stadion", als seien sie das Begleitorchester bei seinen Solo-Darbietungen. Jos Hermens, Macher, Mentor und Manager, hat ein besonders inniges Vertrauensverhältnis zu ihm aufgebaut. "Holland ist meine zweite Heimat", betont Gebrselassie immer wieder, "und Jos mein bester Freund, ja er ist für mich eine Art Bruder." Wie viele der rund 150 Athleten, die Hermens durch seine Agentur "Global Sports Communication" betreut, wohnt er bei seinen Aufenthalten in dem kleinen Örtchen Uden, das auf halbem Wege zwischen Eindhoven und Nimwegen liegt. "Nur eins stört mich", klagt "Gebre" immer zur Winterszeit, "an den Schnee werde ich mich wohl nie gewöhnen."Geld ist nicht alles
Dank der klugen Regiekünste von Jos Hermens, der selber zwei Mal an Olympischen Spielen teilgenommen hat, ist Haile Gebrselassie ein gemachter Mann. "Aber Geld ist nicht alles", sagt der Großverdiener der Branche, "viel wichtiger ist mir ein glückliches Familienleben."
Deshalb ist Haile, was in der Landessprache Amahrisch "Energie" bedeutet, immer heilfroh, wenn er seine Frau Alem, was übersetzt "Erde" heißt, daheim in Addis Abeba in die Arme schließen kann. Zwei Töchter haben die beiden: Aden ("Paradies") und die kleine Mehrat. "Wenn ich zu Hause bin", erzählt der stolze Vater, "hab ich das Paradies auf Erden."
An diesem Wochenende muss er wieder Abschied nehmen. Wenn auch nur für kurze Zeit!
Erneut Hauptdarsteller in Hengelo
Haile Gebreselassie, der am 18. April, wenige Tage nach seinem Marathon-Debüt in London (2:06:35 h), seinen 29. Geburtstag feierte, spielt erneut die Hauptrolle bei den "FBK Games" in Hengelo. Dort ist er bereits vier seiner fünfzehn Weltrekorde (neun im Freien, sechs in der Halle) gelaufen. "Am Freitagabend landet Haile auf dem Flughafen von Amsterdam. Dann geht's weiter nach Delden, wo er im Hotel wohnt, berichtet Edgar De Veer, der "Reisemarschall" und Athletenbetreuer bei "Global Sports Communication, "und am Sonntag wird er den Stundenweltrekord attackieren."
Den hält der gebürtige Mexikaner Arturo Barrios, der inzwischen die US-Staatsbürgerschaft angenommen hat, mit 21.101 Metern, aufgestellt Ende März 1991 im französischen La Flèche. "Worku Bikila und Fita Bayissa, seine Landsleute, sind auch am Start und Aloys Nizigama aus Burundi, der 1996 in Atlanta Olympia-Vierter war über 10.000 Meter", fügt De Veer geschwind hinzu, "wir werden zugleich die genaue Halbmarathon-Zeit stoppen. Durchaus möglich, dass Haile die Weltbestleistung von Paul Tergat auch noch unterbietet." Tergat, der Erzrivale aus Kenia, lief 59:17 Minuten im April 1998 in Mailand. "An alles ist gedacht", blickt De Veer optimistisch voraus, "Haile ist gut drauf und voller Zuversicht." Allzu lange wird er sich allerdings nicht in Holland aufhalten. "Schon am Dienstagabend", so De Veer, "düst er zurück nach Äthiopien." Acht Stunden dauert der Flug von Kontinent zu Kontinent. Von Westeuropa nach Ostafrika.
Das Kraftwerk auf zwei Beinen
Haile Gebrselassie, ein Kraftwerk auf zwei Beinen, 1,64 Meter klein und ganze 53 Kilo leicht, denkt bereits erwartungsfroh an seinen Start in Hengelo: "Ich muss 53 Runden laufen innerhalb einer Stunde. Das ist schwer." Aber nicht unmöglich. Jos Hermens kann ihm wertvolle Tipps mit auf den Weg geben. Mitte der 70er Jahre zählte er selber weltweit zu den schnellsten Langstrecklern. Fragt man ihn nach seinen schönsten Erfolgen, muss er nicht lange überlegen: "Der Stundenweltrekord war der Höhepunkt." Am 1. Mai 1976 in Papendal, "dem Tag der Arbeit", wie Hermens mit keckem Schmunzeln feststellt, drehte er seine Bahnen präzise wie ein Uhrwerk und erreichte exakt vermessene 20.944 m, bis Barrios weiter rannte.
Aber alle sind sich sicher, dass Haile Gebrselassie diese Marke brechen wird. "Der Rekord", hat er schon vor Wochen angekündigt, "muss zurück in die Familie." Jos Hermens, noch immer Europarekordler, grinst sich eins und drückt seinem Schützling, dem "Familienmitglied", fest, ganz fest die Daumen.
Hengelo erster von nur zwei Auftritten
In diesem Sommer wird sich "Gebre" auf der Bahn rar machen. Hengelo ist sein erster Auftritt, der Zweite folgt am 30. Juni in Sheffield über 10.000 Meter, wo er die IAAF-Norm (27:49 min) für die WM 2003 in Paris unterbieten möchte. "Danach kann er sich wieder voll auf seinen nächsten Marathon konzentrieren", bemerkt De Veer, "wo er im Herbst starten wird, steht noch nicht fest." Im Gespräch sind Amsterdam, dort ist Jos Hermens auch Racedirector, Chicago und natürlich Berlin, wo in der Vergangenheit bereits zwei Weltbestleistungen durch den Brasilianer Ronaldo da Costa und die Kenianerin Tegla Loroupe erzielt wurden.
Aber das ist noch Zukunftsmusik. Denn der Stundenweltrekord ist die Gegenwart. Haile Gebrselassie, den sie in der grenznahen Region respektvoll "Mr. Hengelo" rufen, wird wie immer sein Bestes geben, um seine laufbegeisterten Fans nicht zu enttäuschen. "Nach Hengelo komme ich immer besonders gern", erzählt der nimmermüde Dauer(b)renner, "hier habe ich viele Anhänger." In Scharen werden sie am Sonntag wieder ins Stadion pilgern, um ihren Liebling siegen zu sehen. Denn Gebrselassie, dessen Leben unter dem Titel "Endurance" (Ausdauer) mittlerweile auch auf Leinwand zu bewundern ist, besitzt längst Kultstatus.