Haile Gebrselassie und die jungen Wilden
Das Thermometer klettert leichtfüßg. An die 30 Grad, ach du liebe Güte! Die unbarmherzige Schwüle drückt den Saft aus den Poren. Alles klebt. Die Zuschauer im "Fanny Blankers Koen-Stadion", einem kleinen, schmucken Kästchen mitten in Hengelo, schwitzen um die Wette, als die Stimme des Ansagers aus den Boxen dröhnt: "He is back in in Hengelo: Haile Gebrselassie."
Haile Gebrselassie, der strahlende Verlierer (Foto: Hörnemann)
Dann trabt er auch schon durchs Marathontor geradewegs auf die Bahn: Haile Gebreselassie, Doppel-Olympiasieger über 10.000 Meter und viermaliger Weltmeister, einer der ganz Großen, einer, dem die Sympathien nur so zufliegen."Ehrenbürger" ohne Allüren
Die Menschen in Hengelo haben ihn längst als "Ehrenbürger" akzeptiert. Haile Gebrselassie, der Wunderläufer aus Äthiopien, ist ein Star ohne Allüren. Olympiasieger war er zweimal, Weltmeister, gleich mehrmals. Er ist ein Star, aber ohne Allüren, der ungeachtet aller Titel, die er in seiner unvergleichlichen Karriere gesammelt hat, schön auf dem Teppich geblieben ist.
Alle Jahre wieder in Hengelo, Schauplatz des Grand Prix-Meetings, dirigiert er die Zuschauer im engen "FBK-Stadion", als seien sie das Begleitorchester bei seinen Solo-Darbietungen. Ungeachtet aller Erfolge, von denen es reichlich gibt, ist "Gebre", wie sie ihn der Einfachheit halber rufen, schön auf dem Teppich geblieben. Er hebt nicht ab und fällt nicht auf. Höchstens durch Leistungen.
"Mr. Hengelo"
Jetzt ist er wieder in Hengelo, einem eher unscheinbaren Industriestädtchen nahe der deutschen Grenze. "Mr. Hengelo" nennen sie ihn liebevoll, weil er hier in der Vergangenheit vier Weltrekorde, vier von sechzehn in seiner unvergleichen Karriere, aufgestellt hat. Auf dem Flugplatz Schiphol von Amsterdam ist er am Donnerstag eingeflogen: vom äthiopischen Hochland in die niederländische Tiefebene. Mit an Bord Kenenisa Bekele, der vierfache Cross-Weltmeister, und Sileshi Sihine, der noch kürzlich die nationalen Titelkämpfe über 5000 Meter gewonnen hat.
Haile Gebrselassie kommt im blauen Dress daher. Bekele und Sihine tragen rot. Auf dem Kunststoff hinter der Startlinie reihen sie sich ins 19-köpfige Feld ein. Damit es nicht zu eng wird, wenn alle zur Innenbahn drängen, teilt der Kampfrichter die Läufer in zwei Kolonnen auf.
Freibad-Temperaturen
Jos Hermens, der Manager von Haile Gebreselassie, flüstert seinem Schützling noch rasch ein paar Tipps ins Ohr. Er hält eine Stoppuhr in der Hand und lacht. Stimmt das denn? Wollen die Burschen wirklich den Weltrekord attackieren? Den hält "Mr. Hengelo" selber: 26:22,75 Minuten, aufgestellt am 1. Juni 1998, also auf den Tag genau vor fünf Jahren.
Doch bei diesen Temperaturen, da sind sich alle einig, wäre es viel, viel besser, ungeniert ins Freibad zu gehen als ungebremst 25 Runden zu drehen. Noch dazu in einem irren Tempo: 63,31 Sekunden im 400-Meter-Durchschnitt oder 2:38,3 Minuten pro 1000-Meter-Abschnitt.
Der Hauptdarsteller hat dennoch die Ruhe weg. Mit diesen Zahlenspielereien scheint er seinen klugen Kopf nicht martern zu wollen. Mögen die andern nervös werden, er doch nicht.
Vergnügt winkt Haile Gebrselassie noch rasch ins Publikum, die Komparsen neben ihm bekommen zwischendurch ihre Plätze zugeteilt. Dann kracht auch schon der Schuss, laut und vernehmlich, in den wolkenlosen Himmel. Die Hasen schieben sich nach vorn. Ohne Gerangel.
Spalier wird geöffnet
Haile Gebrselassie klinkt sich hinter ihnen ein. Kenenisa Bekele und Sileshi Sihine, die daheim in Äthiopien bereits als seine Nachfolger gehandelt werden, folgen dichtauf. Kein Keilen um Positionen, die Asse bekommen ihr Spalier geöffnet. Jos Hermens, der Strippenzieher hinter den Kulissen, hat im vorhinein alles optimal geregelt. "Für das Wetter kann ich aber nichts", sagt er, zieht dabei die Stirn in Falten und findet's bedauerlich, "dass es heut so heiß ist".
In geballter Formation ziehen sie ihre Bahnen. Aber Weltrekord? Nein! Das wird wohl nichts. Nach einer Durchgangszeit von 2:37,73 Minuten bei 1000 Meter hängt die Spitzengruppe bei 2000 Meter (5:17,75 min) schon zwei Sekunden hinter der Marschtabelle zurück.
Weltrekord ad acta
Philipp Mosima, der Kenianer, der für die Äthiopier die Tempoarbeit verrichtet, passiert die 3000 Meter in 7:58,40 Minuten. Zu langsam. Haile Gebrselassie übernimmt dann das Kommando. Doch kommt er auch nicht weg. Denn wie die Kletten hängen Bekele und Sihine an seinen Fersen. Sihine prescht wenig später nach vorn, beteiligt sich aktiv an der Renngestaltung. Bei Halbzeit, bei 5000 Meter und 13:22,72 Minuten, wird das Unternehmen Weltrekord endgültig zu den Akten gelegt.
Das Tempo lässt weiter nach. Interessant ist nur noch der Rennverlauf. Wer gewinnt? Das bleibt die Frage. Haile Gebrselassie, der über 10.000 Meter bis dato nur einmal verloren hat, 2001 im WM-Finale von Edmonton, kann sich nicht lösen von seinen Wegbegleitern.
Im Dreier-Pack gehen sie in die letzte Runde. Sileshi Sihine macht keinen so frischen Eindruck mehr. Und Kenenisa Bekele? Plötzlich zieht er eingangs der Zielgeraden ruckartig an. Im Nu ist die Erregung der Zuschauer auf Trab. Den höchsten Gang haut Bekele ins Getriebe, die Grenzen der Belastbarkeit scheinen erreicht. Sihine ist längst abgehängt.
Volkes Seele kocht
Gebrselassie versucht dran zu bleiben, doch machtlos ist er gegen den jungen Wilden, der neun Jahre jünger ist, frischer und unverbraucht.
Des Volkes Seele kocht über. Welleanrtig rauscht der Beifall durch die Arena. Kenenisa Bekele stürmt durchs Ziel, trudelt aus, ringt nach Luft.
Die Fotografen stürzen sich auf ihn. Seine Fans aus dem fernen Äthiopien drücken ihm begeistert eine Fahne in die Hand. Bekele, dieses kleiner, schmächtige Bursche, weiß nicht, wie ihm geschieht. 26:53,70 Minuten! Das ist seine Zeit im ersten 10.000-Meter-Lauf seiner Karriere. Haile Gebrselassie, sein großes Vorbild, ist 88 Hundertstel langsamer. Sihine steigert sich in diesem packenden Krimi auf 26:58,7 Minuten.
Wie ein schüchterner Erstklässler
Ein irres Rennen! War das die Wachablösung? Muss Haile Gebrselassie, "the emperor", der Herrscher, abdanken? Später, bei der Pressekonferenz im nahen Zelt, direkt hinter der Haupttribüne, wirkt Kenensia Bekele wie ein schüchterner Erstklässler in der ersten Schulstunde.
Getaneh Tessema, der Ehemann von Gete Wami und Mitarebeiter von Jose Hermens, sitzt zu seiner Rechten, spielt den Übersetzer. "Ich habe sehr großen Respekt vor Haile. Er ist mein Freund. Aber auf der Laufbahn sind wir Konkurrenten", betont Kenenisa Bekele, "er wollte den Sieg, ich natürlich auch. Und ich hab's geschafft."
In Paris Karten neu gemischt
Viel sagt er nicht, in Gedanken scheint er woanders zu sein. Haile Gebrselassie gesellt sich mit etwas Verspätung hinzu, hockt sich neben Jos Hermens, seinen Manager und Mentor. "Ich wusste, dass Kenenisa stark ist, und ich ahnte bereits, dass ich eines Tages möglicherweise gegen ihn verlieren würde", erzählt er den Journalisten, die ihn mit Fragen löchern, "aber ich hätte nie erwartet, dass er mich schon heute schlagen würde."
Was ihm noch fehlt, weiß er jetzt. "Ich muss in den nächsten Wochen an meinem Spurt arbeiten", bemerkt er mit seinem typischen Lächeln, "dann kommt die WM im August." In Paris will er über 10.000 Meter seinen fünften Titel in Folge holen. Dort werden die Karten neu gemischt.