Heinrich Popow fordert Kritik bei Misserfolg
Heinrich Popow (TSV Bayer 04 Leverkusen) gilt über 100 Meter als Deutschlands Gold-Hoffnung bei den Paralympics in London (Großbritannien). Im SID-Interview erzählt der beinamputierte Sprinter unter anderem, warum er vor nichts mehr Angst hat und warum er im Sinne der Gleichberechtigung zur Not "auf die Fresse" kriegen muss.
Gleichberechtigung einmal anders: Deutschlands Gold-Hoffnung Heinrich Popow gibt vor seinem ersten Start bei den Paralympics in London unmissverständlich die Goldmedaille über 100 Meter als Ziel aus - und fordert für den Fall der Nichterfüllung Kritik ohne Berührungsängste."Ich habe meinen Fokus zu 100 Prozent auf die 100 Meter ausgelegt. Dort will ich Gold. Unbedingt", sagt der einseitig beinamputierte Leverkusener. "Und wenn es nicht klappt, dann muss man mich behandeln wie jeden anderen auch. Ich fordere Respekt und Anerkennung, aber das heißt auch, dass ich kein Mitleid und keinen Artenschutz brauche, nur weil ich behindert bin. Wenn ich den Mund zu weit aufreiße, und es geht schief, dann muss ich auch auf die Fresse kriegen."
Zur forschen Zielvorgabe gebe es aus Gründen der Glaubwürdigkeit auch keine Alternative, erklärt der 29-Jährige. "Was soll ich denn erzählen? Ich habe in Athen 2004 Bronze gewonnen und in Peking 2008 Silber. Soll ich sagen, ich habe vier Jahre trainiert, um nochmal Silber zu holen? Ich habe doch schon Silber", sagt er fest entschlossen.
Seit Peking viel geändert
Grundsätzlich ist Heinrich Popow auch einer, der den Mund vollnehmen darf. Der gebürtige Kasache ist Weltmeister, er war der im Vorfeld der Paralympics wohl meistbeachtete deutsche Athlet und gewinnt seit Jahren durch seine offene Meinungsäußerungen Profil.
Vor vier Jahren in Peking (China) beschwerte er sich, dass über ihn und seine Kollegen im Behindertensport "nur bei Aktion Mensch berichtet wird. Wir wollen ins Sportstudio". In den vier Jahren dazwischen habe sich viel geändert, sagt Heinrich Popow nun: "Es ist der Wahnsinn, was vor den Spielen alles los war und wie viel berichtet wurde. Und ich habe das Gefühl, dass endlich die Leistung zählt. Und ich merke, wie ich darin aufblühe."
Kritik an Zeitplan
Dies bedeutet aber nicht, dass ihm alles passt, was in seinem Sport so vor sich geht. Dass er zuerst im Weitsprung um Medaillen kämpfen muss ("Da bin ich Außenseiter"), dann über 200 Meter ("Da laufe ich mit") und erst zum Schluss über 100 Meter statt wie bei Olympia üblich umgekehrt, ist für ihn "nicht olympiawürdig und auch nicht leistungssportwürdig. Ein Usain Bolt würde das nicht mit sich machen lassen."
Den Athleten-Kollegen, die sich nach der Erhöhung der Goldprämie von 4.500 auf 7.500 Euro mit Verweis auf die 15.000 Euro bei Olympia beschwerten, entgegnet der IT-Systemadministrator in der Fußball-Abteilung des Bundesligisten Bayer Leverkusen: "Man muss ehrlich sagen, dass wir noch nicht das Niveau der Olympia-Sportler haben. Ich muss mich gegen weitaus weniger Leute durchsetzen als beispielsweise ein Robert Harting."
Keine Ängste mehr
An sein Leben mit einem Bein hat sich Heinrich Popow inzwischen nicht nur gewöhnt, es füllt ihn aus. "Wenn ich mein Bein wiederbekommen würde und müsste dafür mein jetziges Leben hergeben, würde ich ablehnen", sagt er, ohne den Anflug eines Zweifels in der Stimme.
Allerdings habe sich diese Einstellung erst in den letzten Jahren so richtig entwickelt. "Ab 2008 habe ich gemerkt, dass ich etwas erreichen kann und dafür gekämpft", sagt er: "Mein Vorteil ist, dass ich keine Ängste mehr im Leben habe. Vor nichts. Nicht im Beruf, nicht im Privatleben, nirgendwo. Ich denke, da bin ich gegenüber vielen Menschen mit zwei gesunden Beinen im Vorteil."
Ein bemerkenswertes Fazit eines bemerkenswerten Sportlers.
Quelle: Sport-Informations-Dienst (sid)