Heinrich Popow träumt von den 11,99 Sekunden
Für Paralympics-Sprinter Heinrich Popow lief es in der letzten Zeit so richtig gut. Der Leverkusener holte sich im letzten Jahr im Olympiastadion in London (Großbritannien) das heiß ersehnte 100-Meter-Gold, in diesem Sommer legte er den WM-Titel und mit einer Bestzeit von 12,11 Sekunden den Weltrekord nach. Er ist für den "Paralympic Sport Award 2013" nominiert. Doch der 30-Jährige, mit einer unglaublichen mentalen Stärke ausgestattet, will noch mehr.
"Ich behaupte, ein Oberschenkelamputierter kann die 100 Meter unter zwölf Sekunden laufen. Das ist mein Ziel", sagt er und lässt keinen Zweifel daran, dass er seine persönlichen Grenzen ausloten will. Er hat nicht nur den Willen, er sieht auch das Potenzial: "Ich mache noch lange nicht die Trainingseinheiten der Nicht-Behinderten." Aufhören will er erst, wenn ihm das Alter sagt: "Stopp!"Doch "Stopp" ist für Heinrich Popow eigentlich ein Fremdwort. Für ihn geht es immer vorwärts und auch aufwärts. Das war schon so, als er sich als Neunjähriger - von den Ärzten bereits abgeschrieben - nach einem Tumor in der Wade wieder ins Leben zurückkämpfte.
Er hatte nur noch ein Bein, davon ließ er sich nicht unterkriegen. Ganz im Gegenteil: Er wollte sich nicht ausgrenzen lassen, sondern vielmehr dazugehören: "Ich wollte im Schulsport nicht als Letzter, sondern als Erster gewählt werden."
Die Mädchen waren schneller
Als er in die Behindertensport-Abteilung des TSV Bayer 04 Leverkusen eingeladen wurde, hielt er das erst einmal für einen schlechten Scherz. "Behindertensport? Was will ich da? Ich bin doch nicht behindert", meinte er. Er ging dann doch hin und erlebte eine unglaubliche Schmach: Mädchen waren schneller als er!
Das weckte offenbar den Ehrgeiz, so richtig Gas zu geben. Dafür sorgte mit Karl-Heinz Düe ein etablierter Leichtathletik-Coach, der ihm vorgab: "Programm ist Programm!" Diesen Satz machte sich Heinrich Popow zum Motto. Mit diesem Satz arbeitet er auf seine ganz großen Ziele hin.
Doch der Weg war nicht einfach. Jahrelang kämpfte und haderte er mit der Prothese. Erst in den letzten Jahren gelang es ihm, gemeinsam mit dem Hersteller Ottobock "ein geschlossenes System zu entwickeln, in dem ich mich wohl fühle."
Die Einstellung macht's
Dieses Gefühl und die Eigenschaft eines Siegers, im entscheidenden Moment keine Zweifel an sich heranzulassen, machten Heinrich Popow dann im letzten Jahr zum Paralympics-Sieger über 100 Meter. "Nur die Einstellung ist ausschlaggebend für die Leistung. Wenn es im Kopf passt, dann passt es überall", hat er herausgefunden. Die Basis für die mentale Stärke war die Gewissheit, dass er "jeden Tag alles für den Erfolg getan habe".
Heinrich Popow wollte in London dieses Gold. Unbedingt. Und wie er so spricht, erinnert er ganz stark an einen anderen deutschen Athleten, der 1960 über 100 Meter zum Olympiasieger aufgestiegen ist: Armin Hary. Auch ihn zeichneten ein unendlicher Siegeswille und ein fast nicht zu bändigendes Selbstbewusstsein aus. Beides Schlüssel zum Erfolg.
Dass dieser Erfolg und die Leistungen seiner Kollegen dann von manchen Medien mit einer Diskussion um Techno-Doping recht pauschal in Frage gestellt wurden, ärgert Heinrich Popow noch heute ungemein. Ja, er wird fast wütend dabei und wirft den Zweiflern ein schlagendes Argument entgegen.
Prothese läuft nicht alleine
"Wenn ich die linke Seite schneller machen würde durch die Prothese als das gesunde Bein, wie soll ich dann geradeaus laufen können?", fragt der deutsche Paralympics-Star und verdeutlicht: "Es gibt immer noch einen Körper, der da drin steckt." Sprich: Die Sportprothese läuft nicht von alleine und vor allem nicht schneller als das zweite Bein.
Er lässt keine Zweifel daran aufkommen, dass er weiß, wovon er spricht. Schließlich ist er am Anfang seiner Karriere oft der Problematik begegnet, wie er seinen Körper mit der Prothese in Einklang bringen kann. Eine befriedigende Antwort hat er erst jetzt gefunden, wenn er sagt: "Ich wollte das Gefühl haben, dass die Prothese mein Bein ist. Das haben wir geschafft, so sind wir erfolgreich geworden."
Dieses Erfolgsgefühl hatte Heinrich Popow in den letzten Tagen und Wochen bei emotionalen Vorträgen in Sanitätshäusern weitergegeben. "Von der Spitze zum Breitensport", so lautete hier sein persönliches Motto. Er wollte etwas vermitteln, Motivation und ein Lebensgefühl, und das ist ihm mit seiner forsch-sympatischen Art gelungen. Die Zuhörer waren gleichermaßen fasziniert und begeistert von dem "coolen Typen", der sein Leben sportlich meisterte und als Kind dem Schicksal ein Schnippchen geschlagen hatte.
Auf Tour für mehr als nur den Sport
Umgekehrt ging sogar dem abgezockten Sprinter das Herz auf, wenn er Ober- oder Unterschenkelamputierte wieder zum Laufen bringen konnte, in einem Fall sogar nach 33 Jahren ohne sportliche Betätigung. Dafür erntete er überglückliche Rückmeldungen wie: "Jetzt kann ich meiner dreieinhalbjährigen Tochter auf dem Spielplatz hinterherlaufen."
Das hat auch dem Leistungssportler Heinrich Popow etwas mit auf den Weg gegeben. Es geht nicht mehr nur um den Sport und die Bewegung. Es geht um weit mehr, das Leben und die Lebensqualität nämlich.
Die findet er selbst auch und gerade auf der Sprintbahn. Deshalb wäre es auch keine Überraschung, wenn der Kurzstreckler in einiger Zeit wieder Vorträge halten und dann mit Stolz feststellen könnte: "Ich bin der erste Oberschenkelamputierte, der die 100 Meter in 11,99 Sekunden gelaufen ist." Der erste 10,0-Sprinter der Geschichte lässt grüßen! Armin Hary.